Erleichterung über Ja der SPD
Die große Koalition kann kommen: Unerwartet deutlich stimmen die SPD-Mitglieder für das Bündnis mit der Union. Die Opposition hält die neue Regierung schon jetzt für schwach, Europa aber atmet auf.
Die von Dramatik und Zweifeln geprägte längste Phase der Regierungsbildung in Deutschland geht zur Erleichterung von Politikern im In- und Ausland zu Ende. Zwei Drittel der SPD-Mitglieder haben für eine Neuauflage der großen Koalition votiert. Bundespräsident FrankWalter Steinmeier kündigte an, Angela Merkel zur Wahl als Bundeskanzlerin vorzuschlagen. Als Termin dafür sowie für die Vereidigung des Kabinetts wurde der 14. März genannt. Auch wenn die Mehrheit dieser dritten großen Koalition unter Merkels Führung deutlich kleiner ist als in der vorigen Legislaturperiode, gilt Merkels Wiederwahl als sicher. Die CDU-Vorsitzende sprach von einem „klaren Ergebnis“bei der SPD.
Allerdings hatten beim Mitgliederentscheid 2013 noch drei Viertel der Sozialdemokraten zugestimmt. Ihnen steht nun ein harter Erneuerungsprozess in der Regierung bevor. Die Gegner der großen Koalition wie Juso-Chef Kevin Kühnert kündigten Widerstand gegen jegliches „Weiter so“an. Der kommissarische Parteichef Olaf Scholz sah aber bereits Fortschritte auf dem Weg zur innerparteilichen Versöhnung. Er sagte, die SPD sei in der Kontroverse über den Koalitionsvertrag weiter zusammengewachsen. Fraktionschefin Andrea Nahles, die am 22. April auch zur Parteivorsitzenden gewählt werden soll, appellierte an die Genossen: „Wir bleiben jetzt zusammen.“Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sagte, die SPD-Mitglieder hätten eine rationale Entscheidung getroffen. Die Partei befinde sich aber nach wie vor in einer Zerreißprobe. Nun gelte es, schnell die Handlungsfähigkeit einer neuen stabilen Regierung zu zeigen.
Offen ist noch, wen die SPD ins Kabinett schicken wird. Scholz kündigte an, die SPD werde ihre sechs Ministerposten zur Hälfte mit Frauen besetzen. Ein Teil der amtierenden Ressortchefs werde bleiben. Die CSU will heute ihre Minister bekannt geben. Die CDU hat ihre Minister bereits benannt.
In Europa war nach dem Ja der SPD ein Aufatmen zu spüren. Das Büro von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach von einer „guten Nachricht für Europa“. Macron wartet seit Monaten auf deutsche Unterstützung für seine EU-Reformvorschläge. EU-Kommissar Günther Oettinger sagte unserer Redaktion: „Wir Europäer sind froh, dass es zu einer klaren Ent- scheidung gekommen ist. Damit werden auch die Zweifel an der Autorität der Bundesregierung und an der Stabilität der Koalition ausgeräumt.“Jetzt müssten auf europäischer Ebene schnell Gesetzesvorhaben angeschoben werden wie etwa die Harmonisierung des Asylrechts. Deutschland spiele hier und bei der Sicherung der Finanzen eine wichtige Rolle: „Die nächste Wirtschaftsund Währungskrise wird kommen.“
Größte Oppositionspartei im Bundestag wird künftig die AfD sein. Die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel bezeichnete die SPD als „neuen Kanzlerwahlverein“. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch beklagte, Union und SPD ließen die brennenden sozialen Fragen unbeantwortet. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte: „Mit dieser großen Koalition wird es keinen Aufbruch geben.“Es werde keinen konsequenten Klimaschutz und keinen raschen Kohleausstieg geben. Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt forderte, als Erstes müssten Familien gestärkt, die Zuwanderung müsse dauerhaft begrenzt werden.
Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, sagte, bei der Umsetzung des Koalitionsvertrags müssten Regierung und Parlament nun Zukunftsinvestitionen voranstellen, Impulse für Innovationen setzen und dabei neue Belastungen für Bürger und Unternehmen vermeiden. Der CDU-Wirtschaftsrat beklagte, es seien keine wichtigen Steuerreformen vorgesehen, was angesichts der steuerpolitischen Entwicklung in den USA und anderen Industriestaaten ein Fehler sei. Der Wirtschaftsstandort Deutschland verliere weiter an Attraktivität.
BERLIN Es wirkt gespenstisch. SPDSchatzmeister Dietmar Nietan verkündet die Zahlen, auf die die Republik und auch Europa und vielleicht sogar die Welt gespannt warten. Zahlreiche Helfer, die die ganze Nacht Briefe geöffnet und sortiert haben, schauen zu. Selten hat die SPD-Zentrale so viele Journalisten aus dem In- und Ausland im Haus. Nietan sagt mit fester Stimme: 239.604 Mitglieder haben mit Ja gestimmt und 123.329 mit Nein. Stille. Übergangsparteichef Olaf Scholz stellt ohne jede Regung fest, dass die SPD nun in eine neue Regierung eintritt. Immer noch Stille. Kein Lächeln, kein Aufatmen, kein Beifall. Als wäre etwas Schlimmes passiert.
Dabei kommen die Sozialdemokraten trotz ihres historisch schlechtesten Ergebnisses bei der Bundestagswahl am 24. September wieder an die Macht. In diesem großen Moment im Willy-Brandt-Haus will die Parteiführung aber alles vermeiden, was nach Triumphgeheul aussieht. Die Verlierer bei dieser Ab- stimmung, die Gegner der Fortsetzung der großen Koalition, die Jungsozialisten mit ihrem so frisch und konsequent auftretenden neuen Vorsitzenden Kevin Kühnert, sollen nicht provoziert werden. Da muss Scholz dann zum Freuen in den Keller gehen. Ist aber auch kein Problem für den 59-Jährigen. Er ist kein Mann der Emotionen. Schon in seiner Zeit als SPD-Generalsekretär vor 15 Jahren wurde er „Scholzomat“genannt. Einer, der einfach funktioniert.
Scholz soll im neuen Kabinett Finanzminister werden. Über die Ministerinnen und Minister der SPD spricht er jetzt aber nicht. Noch so eine Verabredung. Nicht gleich wieder über Posten reden, zumal diese noch nicht endgültig verteilt sind. Das ging bei der Vorstellung des mühsam ausgehandelten Koalitionsvertrags mit CDU und CSU Anfang Februar nach hinten los. Zwei Tage später war die Karriere von Martin Schulz als SPD-Chef und designierter Außenminister beendet. Der ist immerhin froh, dass die Mitglieder Ja gesagt haben, wie er es die „Süddeutsche Zeitung“wissen lässt. Wochenlang hat die SPD-Führung gebangt, dass die von den Jusos angestrengte No-Groko-Kampagne bei den Mitgliedern verfangen könnte. Tausende Menschen traten extra in die Partei ein, um beim Mitgliedervotum mit Nein zu stimmen. Beim Sonderparteitag in Bonn am 21. Januar kam nur mit Mühe eine Mehrheit von rund 56 Prozent der Delegierten zustande – und das wohl nur, weil SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles ordentlich auf den Putz gehauen hatte. Die Bürger würden der SPD bei einer Neuwahl einen Vogel zeigen, hatte sie gewarnt. Die aktuellen Umfragewerte der SPD liegen deutlich unter 20 Prozent.
Fünf Monate, das ist Rekord. Noch nie hat eine Regierungsbildung in Deutschland so lange gedauert. Den ersten Anlauf zu einer Jamaika-Koalition ließ die FDP im November platzen. Die Union – und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, früher SPD-Außenminister – riefen nach der SPD, die überhaupt nicht regieren wollte. Je- denfalls hatte Schulz zweimal unter Beifall der Genossen versprochen, keine Regierung mit Angela Merkel einzugehen – und selbst auch nicht in ein Kabinett unter ihrer Führung zu gehen. Dann kamen zwei Kehrtwenden: Die SPD handelte einen Koalitionsvertrag aus, und Schulz, der frühere EU-Parlamentspräsident, wollte Außenminister werden. Das war für die Partei zu viel. Sie begehrte auf. Schulz musste gehen.
Scholz sagt, das Ja der Mitglieder zur großen Koalition gebe der Partei nun Kraft für eine Erneuerung. Die SPD sei mit ihrem Findungsprozess in den vergangenen Wochen weiter zusammengewachsen. Das sehen die Kritiker ganz anders. Ein Drittel – eben 123.329 Mitglieder – stimmte gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD, obwohl die Führung einen Koalitionsvertrag mit sozialdemokratischer Handschrift ausgehandelt hat und sechs Ministerien, darunter das Außen-, das Finanz- und das Arbeitsministerium, bekommt. Und das alles mit einem Wahlergebnis von nur 20,5 Prozent.
Für Merkel war es schwer, ihrer CDU zu erklären, dass sie zwar Wahlsiegerin ist, aber in den Verhandlungen oft klein beigeben musste. Die Autorität der Kanzlerin und CDU-Chefin wurde infrage gestellt, gar über Merkels Nachfolge debattiert und spekuliert. Aber als der CDU-Parteitag vor einer Woche dann über den Koalitionsvertrag abstimmte, hoben nur 27 von rund 800 Delegierten die Hand, um Nein zu sagen. Das ist der Unterschied zur SPD. Wenn es zum Schwur kommt, rückt die CDU wieder zusammen. Sie will nur eins: regieren. Die Union versprüht deswegen auch Freude und Erleichterung über das Ja der SPD. CDU-Vize Julia Klöckner lobt: „Das ist in dieser Situation das einzig Richtige und Verantwortungsvolle.“
Für Kühnert ist das einzig Richtige jetzt die Erneuerung trotz Regierung. Er will der Partei „aufs Dach steigen“und eine „grundlegend andere politische Kultur“.
Wie es der SPD jetzt am Anfang ihrer dritten großen Koalition unter Merkel geht, bringt die stellvertretende SPD-Vorsitzende Malu Dreyer so auf den Punkt: „Es ist am Ende dann auch eine wirkliche Zweckentscheidung geworden.“Das erklärt auch die bizarre Stimmung im Willy-Brandt-Haus im Moment der Verkündung. Dreyer sagt, es gebe eben „wenig Leidenschaft“.