Das Haus der 20.000 Bücher
Von den Ecken ragten Olivenzweige in das Bild. Oben links flatterte eine Taube. Als ich Jahre später an einem SederAbend in einer liberalen Haggada blätterte, stieß ich auf eine Reproduktion desselben Gemäldes. Es trug den Titel Miriam die Prophetin am Roten Meer.
In dem Maß, in dem die Anzahl der Bücher zunahm, geriet die Ordnung in Gefahr. In den Wäschetrocken-, Geschirr- und Kleiderschränken sammelten sich bunt gemischte Bücherhaufen an. Und auf den Fußböden des Ess- und Wohnzimmers stapelten sich weitere Bände zu wackligen Türmen.
Ich glaube nicht, dass je versucht wurde, sämtliche Bücher im Haus zu zählen, obwohl Chimen immer wieder halbherzige Anläufe unternahm, seine Sammlung zu katalogisieren, und nach seinem Tod verschiedene Experten wochenlang den Fundus durchsahen – einige von ihnen kamen aus London, andere flogen aus New York ein. Als ich damals vor den Regalen stand, schätzte ich den Bücherbestand auf knapp zwanzigtausend Bände. Mein Vater hingegen war der Meinung, es seien eher fünfzehntausend. Wie viele es auch genau gewesen sein mochten, allein angesichts der Menge verschlug es einem den Atem. Noch unglaublicher allerdings war die Qualität. Chimen ging es nicht um Zahlen. Er sammelte Bücher und Ausgaben, die nur mühsam aufzuspüren waren und folglich in Gold aufgewogen werden konnten. Vor allem aber bedeuteten sie eine Art Wiedergeburt, denn sie boten die Möglichkeit, Vergangenes wieder lebendig werden zu lassen.
Die Sammlung war schlicht und einfach ein wunderbares intellektu- elles Unterfangen – sowohl eine Art Fachbibliothek, auf die Chimen zurückgreifen konnte, wenn er für seine Essays und Bücher recherchierte, als auch ein Werk der Liebe, des Respekts vor der Vergangenheit, das die Erinnerungen und Ideen inzwischen längst verstorbener Männer und Frauen bewahrte, deren Welten genauso verschwunden waren wie ihre Stimmen, ihr Lächeln, ihre Körper. Im Hillway konnte man in die Vergangenheit reisen und hautnah miterleben, wie die Kämpfer von 1848 in Wien oder Berlin oder London auf die Straßen gingen; oder mit den Pariser Kommunarden die Barrikaden erklimmen; oder sich den russischen Revolutionären in Petrograd im Oktober 1917 zugesellen; oder die heimatlosen jiddischsprachigen Journalisten und Theaterintendanten besuchen, die ein Jahrhundert zuvor im Londoner East End Zeitungen mit so skurrilen Namen wie Der Poylisher Yidl gedruckt und heimwehkranke Immigranten unterhalten hatten.
Chimen selbst war kein besonders guter Erzähler. Häufig gab er die Pointe einer Anekdote zu früh preis, oder er verzettelte sich, wenn es sich um komplexere Geschichten handelte. Dennoch kannte er sich so gut mit historischen Begebenheiten aus und erinnerte sich so exakt an Namen, Orte und Daten, daran, wer wen kannte und wer sich mit wem überworfen hatte, dass man mit etwas Fantasie das Geschilderte lebensecht vor sich sehen konnte.
Mein Großvater wachte nicht eifersüchtig über seine Sammlung, aber man musste sich das Recht, seine Buchjuwelen in Augenschein zu nehmen, erst verdienen; man benötigte entsprechende Empfehlungen. Als sich jemand, kurz nachdem Chimen zum Professor berufen worden war, mit der Bitte, einen der Briefe von William Morris sehen zu dürfen, ans University College wandte, ließ Chimen seine Sekretärin eine hochmütige Antwort tippen: „Ich bedaure sehr, dass meine Bibliothek streng privater Natur ist und dass ich nur sehr wenigen Personen Zutritt gewähren kann. Paul Meier, ein alter Freund von mir, benutzte meine Bibliothek für seinen Artikel über Morris sowie für sein großartiges Buch über den Autor. Ich bedaure sehr, Sie wissen lassen zu müssen, dass das Manuskript niemand anderem zur Verfügung steht.“Chimen prüfte einen Interessenten auf Herz und Nieren: Wie ernst war es ihm mit seinem Anliegen? Welche Kenntnisse brachte er mit? Wie groß war die Begeisterung desjenigen für die Welt der Ideen? Erst dann öffnete er nach und nach seine Bibliothek. Beim ersten Mal zeigte er dem Besucher vielleicht eine der ersten Ausgaben eines Buches von Lenin. Bei der nächsten Begegnung ließ er ihn einen Blick auf ein handschriftliches Dokument Lenins oder auf ein paar Zeilen der Revolutionärin Rosa Luxemburg werfen. Später dann präsentierte er dem Besucher möglicherweise sogar die illustrierten Originalmanuskripte von William Morris, die in derselben, für eine Bibel vorgesehenen Kassette lagen, in der Morris sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufbewahrt hatte. Eventuell wurde dem Besucher gar gestattet, eine Erstausgabe von William Godwins 1793 erschienener Abhandlung Über die politische Gerechtigkeit, des ersten veröffentlichten Werks über anarchistische Politik, in die Hand zu nehmen. Es war ein schweres Buch, dessen dicke, vergilbende Seiten man in einen majestätischen schwarzen Einband gezwängt hatte – in einem ähnlichen Band dürfte der jugendliche William Hazlitt, der später zu den führenden Essayisten Englands zählen sollte, um 1795 gelesen haben. „Kein Werk in unserer Zeit hat der philosophischen Denkweise unseres Landes einen solchen Schlag versetzt wie die gefeierte Untersuchung Über die politische Gerechtigkeit“, schrieb Hazlitt in seiner Essaysammlung über berühmte Denker, The Spirit of the Age. „Tom Paine erschien ihm als Einfaltspinsel, William Paley als altes Weib, Edmund Burke als großspuriger Sophist. Diese drei galten als Vordenker ihrer Zeit; allgemein war man davon überzeugt, dass hier die Heimstätte der Wahrheit war, der moralischen Wahrheit.“
All das war letztlich eine Vertrauensübung – nicht dass Chimen gefürchtet hätte, einer seiner Gäste würde sich mit der Morris-Kassette unter dem Arm oder dem GodwinTraktat in der Aktentasche davonmachen. Vielmehr war er der Meinung, dass intellektuelles Entgegenkommen erwidert werden müsse. Er war gern bereit, Besuchern Dokumente zu zeigen, von denen sie das ein oder andere nirgends sonst auf der Welt zu Gesicht bekommen würden, doch er erwartete eine Gegenleistung: sinnvolle Fragen und durchdachte Kommentare, zumindest jedoch einen Ausdruck der Bewunderung und Ehrfurcht angesichts der Ideen und Dokumente, die zum Greifen nah waren. 2006, zu Ehren von Chimens neunzigstem Geburtstag, drehten der Dokumentarfilmer Christopher Hird und Tariq Ali, aktives Mitglied der britischen Neuen Linken und Historiker, einen Film über meinen Großvater und seine Bücher.
folgt) (Fortsetzung