Kreuzfeuer
Ich erreichte das Ende der Boxenreihe. Es wunderte mich nicht, dass die Scheibe am Sattelkammerfenster noch nicht ersetzt worden war. Ich steckte den Kopf durch die Öffnung, kniff die Augen zu und horchte.
Ich hörte ein Wimmern. Meine Mutter war tatsächlich hier. Die Laute waren leise, aber unverkennbar, und sie kamen von etwas weiter vorn. Sie war in einer Box auf derselben Stallseite wie ich damals.
Ich horchte wieder. Ein- oder zweimal hörte ich, wie sie sich bewegte, aber es war nicht in unmittelbarer Nähe, denn ich hörte ihren Atem nicht, nur ab und zu ein gedämpftes Stöhnen. Die Längsseiten des Gevierts hatten je zehn Boxen, und meiner Schätzung nach war sie mindestens drei von der Sattelkammer entfernt, eher mehr. Vielleicht war sie in derselben Box, in der ich gefangen gesessen hatte.
Wieder sah ich auf die Uhr: vier Uhr neunundfünfzig. In sechs Minuten kam der Wagen – hoffte ich.
Ich zog Kopf und Schultern aus der Fensteröffnung, glitt langsam an der Boxenreihe entlang und zählte die Türen. Nur zu deutlich erinnerte ich mich, dass ich bis zur Sattelkammer über fünf Trennwände hatte klettern müssen. Ich blieb vor der vierten Box stehen. Die nächste war ,meine’. Ob jemand Wache stand? Ich verharrte regungslos und atmete so leise wie möglich. Wegen des Leuchtzifferblatts wagte ich nicht mehr auf die Uhr zu sehen.
So wartete ich im Dunkeln, lauschte, zählte die Sekunden – Mississippi eins, Mississippi zwo, Mississippi drei und so weiter. Wie ich es hier schon einmal getan hatte.
Ich wartete und wartete und bezweifelte schon, dass Ian noch kam. Ich war weit über Mississippi zwanzig in der dritten Minute hinaus, als ich die Hupe hörte, ein zwei Sekunden langes Hupen. Braver Junge.
Sofort tat sich was am Ende der Stallreihe, keine zwanzig Meter von da, wo ich stand. Jemand hatte still dort gesessen, aber jetzt hörte ich ihn deutlich in Richtung Haus davongehen, und seine Schritte knirschten auf dem Schotter des Wendeplatzes. Er rief jemand anderem die Frage zu, was da los sei, doch die leise Antwort kam von zu weit weg, und ich verstand sie nicht.
Schnell trat ich zur nächsten Stallbox und schob die Riegel zurück. Das gab ein schabendes Geräusch, das man aber vom Haus her nicht hören würde. Die Tür ging auf.
„Mum“, sagte ich leise in die Dunkelheit. Keine Antwort. Ich horchte und bemühte mich, das Pochen meines Herzens unter Kontrolle zu bringen.
Wieder hörte ich sie wimmern, aber von noch weiter links.
Mir war klar, dass ich möglichst schnell sein musste, aber ich durfte mich auch nicht entdecken lassen. Ich glitt so rasch, wie ich mich traute, an den Boxen entlang, schob vorsichtig jeweils den Riegel an der oberen Halbtür zurück und rief leise.
Sie war in der vorletzten Box, unweit der Stelle, wo der Posten gesessen hatte, und für mein Gefühl dauerte es viel zu lange, bis ich sie fand.
Jeden Augenblick konnte Ian jetzt auf die Straße zurücksetzen und davonfahren. Fünf Minuten waren eine lange Zeit, wenn man dasaß und Angst hatte, es könnte was passieren, und hoffte, dass alles gut ging. Er war bestimmt sehr nervös da im Wagen und beobachtete, wie die Zeiger seiner Uhr dahinkrochen. Ich hätte es ihm nicht verdenken können, wenn er früher losgefahren wäre.
Als ich die richtige Stalltür öffnete und rief, konnte meine Mutter mir zwar nicht antworten, machte sich aber mit einem erstickten Geräusch bemerkbar.
„Scht.“Ich hielt auf den Laut zu und ging aufs linke Knie runter. Es war stockfinster in der Box. Ich zog einen meiner schwarzen Wollhandschuhe aus und ,schaute’ mit den Fingern – tastete mit der linken Hand umher, bis ich sie fand.
Ihr Mund war zugeklebt, und sie war mit den gleichen Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt, wie sie sie für mich genommen hatten. Zum Glück war sie nicht stehend an einen Wandring gekettet, sondern saß in Türnähe auf dem harten Boden, den Rücken an die Holzverkleidung gelehnt.
Ich legte vorsichtig meinen Säbel ab, damit er nicht auf dem Beton klirrte, dann streifte ich den Rucksack von den Schultern und machte ihn auf. Ians Tranchiermesser zerschnitt die Plastikfesseln mühelos.
„Sei bitte ganz leise“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Es schien mir ratsam, das Klebeband auf ihrem Mund zu lassen, bis wir außer Hörweite waren. Ich half ihr hoch und wollte mich bücken, um Rucksack und Säbel aufzuheben, da drehte sie sich um und schloss mich in die Arme. Sie drückte mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Und sie weinte. Ich wusste nicht, ob vor Schmerzen, Angst oder Freude, aber ich spürte die Tränen auf meinem Gesicht.
„Mum, lass mich“, konnte ich ihr nur zuflüstern. „Wir müssen hier raus.“
Sie ließ mich los, hielt sich aber noch an meinem Arm fest. Ich schüttelte sie ab und warf den Rucksack über die rechte Schulter. Als ich mich erneut bückte, lehnte sie sich schwer an mich, so dass ich aus dem Gleichgewicht geriet und mit dem gefühllosen rechten Fuß gegen den Säbel trat. Er rutschte mit einem metallischen Rasseln über den Boden, das mir in der kleinen Box schrecklich laut vorkam, draußen wahrscheinlich aber keine drei Meter weit zu hören war.
Aber war draußen jemand im Umkreis von drei Metern?
Ich hob den Säbel auf und führte meine Mutter zur Tür.
Ians fünf Minuten mussten inzwischen längst um sein, und ich hoffte, er war sicher auf dem Weg nach Hause, um dort auf meinen Anruf zu warten und die Kavallerie zu alarmieren, falls etwas schiefging. Aber wo steckten meine Feinde? Waren sie noch auf der Zufahrt? Wieder oben?
Meine Mutter und ich traten zur Stalltür hinaus auf den Hof, wobei sie sich an meinen linken Arm klammerte, als wollte sie ihn nie mehr loslassen.
Niemand schrie, niemand kam angelaufen, es gab nur die Dunkelheit und die Stille der Nacht. Aber meine Feinde waren da irgendwo, wach und auf der Lauer, und sie waren in der Überzahl. Zeit zu verschwinden.
Wer heute flieht, kann morgen weiterkämpfen. Doch aus der Flucht wurde nichts. Meine Mutter und ich waren halb über den Stallhof, auf dem kürzesten Weg zum Durchgang, da erfassten uns die plötzlich eingeschalteten Scheinwerfer eines dicht am Haus stehenden Wagens.
(Fortsetzung folgt)