Die protestantische Agenda 2020
Die Evangelische Kirche in Deutschland wählt auf ihrer Synode eine neue Leitung. Es dürfte ein echter Neuanfang werden – zwei Jahre vor dem Reformationsjubiläum. Verbesserungsbedarf gibt es an allen Ecken.
DÜSSELDORF Mit dem Satz, auf einer Sache liege kein Segen, tut man sich unter Kirchenleuten naturgemäß schwerer als im profanen Alltag – wer wollte sich so ein Urteil schon anmaßen? Wenn die Rede auf die vergangenen sechs Jahre kommt, dann sind solche Stoßseufzer derzeit allerdings auch bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu hören – nur hinter vorgehaltener Hand natürlich, aber meist sinngemäß gefolgt von der Aussage, noch einmal solche sechs Jahre könne sich der deutsche Protestantismus nicht leisten.
Dass derzeit viel voraus- und zurückgeblickt wird, liegt daran, dass die EKD an einer Wasserscheide steht: Morgen beginnt die Tagung der Synode, also des Kirchenparlaments, in Bremen, und es ist ein neuer Rat, also eine „Regierung“, zu wählen. 15 Menschen werden für sechs Jahre 23 Millionen Protestanten vertreten; sie dürfen ihre Kirche durch das Jubiläum „500 Jahre Reformation“in zwei Jahren steuern.
Die zu Ende gehende Ratswahlperiode war eine Abfolge von Pannen, Tragödien und Unprofessionalitäten. Wie zerrissen die sechs Jahre waren, zeigt die Tatsache, dass 2015 Margot Käßmann planmäßig gerade ihre erste Amtszeit als Ratsvorsitzende beendet hätte. Stattdessen müssen die Synodalen das Amt seit 2009 schon zum vierten Mal besetzen. Käßmann trat 2010 nach nächtlicher Alkoholfahrt durch Hannover zurück, ihr Nachfolger Nikolaus Schneider legte das Amt 2014 wegen der Krebserkrankung seiner Frau nieder. In Bremen wird der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm nach einem Jahr im Amt als Ratschef bestätigt werden. Nichts anderes ist vorstellbar, alles andere wäre eine Katastrophe.
Das Problem geht aber tiefer. Die EKD hat die Republik zuletzt schlicht zu viel mit ihren Befindlichkeiten, zu wenig mit ihrem Kerngeschäft behelligt. Das begann mit der Ratswahl 2009, als die im Proporzzwang gefangene Synode die Arbeit verweigerte, Kandidaten reihenweise demütigte und einen Ratsposten unbesetzt ließ. 2013 wiederholte sich die Posse im Kleinen: Das CSU-Urgestein Günther Beckstein zum Synodenpräses zu wählen, brachte man nicht über sich. Nach einem peinlichen Abend fand man mit Irmgard Schwaetzer allerdings eine Notlösung, die sich mit ihrer forschen evangelischen Eloquenz als Glücksfall erwiesen hat.
Im selben Jahr veröffentlichte die EKD ein Familienpapier, das in der Sache recht hatte – mehr Wertschätzung für neue Familienformen und homosexuelle Partnerschaften –, aber theologisch schluderte. Das Resultat waren Kübel voll Häme, auch intern ätzende, teils persönliche Kritik, ein angeschlagener Ratsvorsitzender und eine scheinbare Bestätigung des Klischees, die evangelische Kirche hechele lieber dem Zeitgeist hinterher, als sich theologisch mit ihm auseinanderzusetzen.
Und dann war da noch das Geld. 2014 sah sich die EKD plötzlich einer Welle von Austritten gegenüber, die offenbar mit dem neuen, automatischen Einzug von Kirchensteuern auf Kapitalerträge zu tun hatte. Der Kirche fiel zunächst außer Vorwürfen an die Banken wenig ein; später schob man zerknirscht nach, man habe wohl mit den Mitgliedern zu wenig kommuniziert.
Genug Gründe also, vieles anders zu machen. Die EKD hat eine Agenda 2020 vor der Brust; unter Bedford-Strohm läuft schon einiges in die richtige Richtung. Die Kirche muss professioneller arbeiten, das heißt vor allem: lautloser. Sie muss kirchlicher werden, also ihre Interventionen besser und prägnanter theologisch begründen und nicht bloß mit Politsprech. Sie muss offener werden, wenn es um neue Modelle des Miteinanders von Kirche und Staat geht – die Zahl der Kirchenmitglieder insgesamt sinkt langsam gen 50 Prozent; bisher ist der kirchliche Ton viel zu oft der einer eifersüchtigen Besitzstandswahrung. Die EKD muss inhaltliche Konzepte für die Zeit nach dem Reformati- onsjubiläum entwickeln, auf das die Kirche seit acht Jahren hinarbeitet.
Sie muss schließlich auch darauf vorbereitet sein zu schrumpfen. Noch brechen die Steuereinnahmen einen Rekord nach dem anderen. Das ist beruhigend, wird sich aber nach allen Prognosen mittelfristig ändern. Von einem „Kassensturz nach 2017“hat bereits warnend Finanzexperte Klaus Winterhoff gesprochen, der in Bremen aus dem Rat ausscheiden wird. Resultat dürfte nicht nur ein Rückzug in der Ebene sein, wie ihn die katholische Kirche schon erlebt, sondern auch eine erneute Debatte über die Fusion von Landeskirchen. Das aber geht direkt an die evangelische Identität – auch an das Selbstverständnis als Volkskirche mit allen geistlichen Konsequenzen.
Die Synode muss das Team wählen, mit dem das Neue gelingen soll. 23 Kandidaten bewerben sich um 14 Ratssitze – die Synodenpräses hat qua Amt Nummer 15. Vorgeschlagen sind zehn Frauen und 13 Männer. Unter den 23 sind zehn Theologen. Nur sechs Ratsmitglieder stellen sich zur Wiederwahl; es wird also ein echter Neustart. Auffällig ist auch, dass nur vier leitende Geistliche der Landeskirchen auf dem Zettel stehen. Die westfälische Präses Annette Kurschus ist eine von ihnen – sie hat erst nach langem Zögern kandidiert. Geistliche aus dem Rheinland sucht man vergeblich. Die Liste ist austariert zwischen Konservativen und Progressiven, Lutheranern und Reformierten; Wissenschaftler sind vertreten, Wirtschaftsvertreter (etwa der scheidende Chef des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim, Andreas Barner) und Politiker wie die Ratinger Sozialdemokratin Kerstin Griese. Das Konstrukt hat jedoch zwei Schwachstellen: Nur drei Kandidaten sind jünger als 45, nur vier vertreten eine ostdeutsche Kirche.
Die Synode könnte daher weitere Kandidaten vorschlagen. Von ihrem geliebten Proporz lassen die Protestanten ungern – Synoden sind eine politische Veranstaltung. Sie sind aber auch ein geistliches Ereignis. Daraus mag Gelassenheit entstehen: Für den Segen ist ohnehin eine andere Instanz zuständig.