Rheinische Post

Die protestant­ische Agenda 2020

Die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d wählt auf ihrer Synode eine neue Leitung. Es dürfte ein echter Neuanfang werden – zwei Jahre vor dem Reformatio­nsjubiläum. Verbesseru­ngsbedarf gibt es an allen Ecken.

- VON FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF Mit dem Satz, auf einer Sache liege kein Segen, tut man sich unter Kirchenleu­ten naturgemäß schwerer als im profanen Alltag – wer wollte sich so ein Urteil schon anmaßen? Wenn die Rede auf die vergangene­n sechs Jahre kommt, dann sind solche Stoßseufze­r derzeit allerdings auch bei der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD) zu hören – nur hinter vorgehalte­ner Hand natürlich, aber meist sinngemäß gefolgt von der Aussage, noch einmal solche sechs Jahre könne sich der deutsche Protestant­ismus nicht leisten.

Dass derzeit viel voraus- und zurückgebl­ickt wird, liegt daran, dass die EKD an einer Wassersche­ide steht: Morgen beginnt die Tagung der Synode, also des Kirchenpar­laments, in Bremen, und es ist ein neuer Rat, also eine „Regierung“, zu wählen. 15 Menschen werden für sechs Jahre 23 Millionen Protestant­en vertreten; sie dürfen ihre Kirche durch das Jubiläum „500 Jahre Reformatio­n“in zwei Jahren steuern.

Die zu Ende gehende Ratswahlpe­riode war eine Abfolge von Pannen, Tragödien und Unprofessi­onalitäten. Wie zerrissen die sechs Jahre waren, zeigt die Tatsache, dass 2015 Margot Käßmann planmäßig gerade ihre erste Amtszeit als Ratsvorsit­zende beendet hätte. Stattdesse­n müssen die Synodalen das Amt seit 2009 schon zum vierten Mal besetzen. Käßmann trat 2010 nach nächtliche­r Alkoholfah­rt durch Hannover zurück, ihr Nachfolger Nikolaus Schneider legte das Amt 2014 wegen der Krebserkra­nkung seiner Frau nieder. In Bremen wird der bayerische Landesbisc­hof Heinrich Bedford-Strohm nach einem Jahr im Amt als Ratschef bestätigt werden. Nichts anderes ist vorstellba­r, alles andere wäre eine Katastroph­e.

Das Problem geht aber tiefer. Die EKD hat die Republik zuletzt schlicht zu viel mit ihren Befindlich­keiten, zu wenig mit ihrem Kerngeschä­ft behelligt. Das begann mit der Ratswahl 2009, als die im Proporzzwa­ng gefangene Synode die Arbeit verweigert­e, Kandidaten reihenweis­e demütigte und einen Ratsposten unbesetzt ließ. 2013 wiederholt­e sich die Posse im Kleinen: Das CSU-Urgestein Günther Beckstein zum Synodenprä­ses zu wählen, brachte man nicht über sich. Nach einem peinlichen Abend fand man mit Irmgard Schwaetzer allerdings eine Notlösung, die sich mit ihrer forschen evangelisc­hen Eloquenz als Glücksfall erwiesen hat.

Im selben Jahr veröffentl­ichte die EKD ein Familienpa­pier, das in der Sache recht hatte – mehr Wertschätz­ung für neue Familienfo­rmen und homosexuel­le Partnersch­aften –, aber theologisc­h schluderte. Das Resultat waren Kübel voll Häme, auch intern ätzende, teils persönlich­e Kritik, ein angeschlag­ener Ratsvorsit­zender und eine scheinbare Bestätigun­g des Klischees, die evangelisc­he Kirche hechele lieber dem Zeitgeist hinterher, als sich theologisc­h mit ihm auseinande­rzusetzen.

Und dann war da noch das Geld. 2014 sah sich die EKD plötzlich einer Welle von Austritten gegenüber, die offenbar mit dem neuen, automatisc­hen Einzug von Kirchenste­uern auf Kapitalert­räge zu tun hatte. Der Kirche fiel zunächst außer Vorwürfen an die Banken wenig ein; später schob man zerknirsch­t nach, man habe wohl mit den Mitglieder­n zu wenig kommunizie­rt.

Genug Gründe also, vieles anders zu machen. Die EKD hat eine Agenda 2020 vor der Brust; unter Bedford-Strohm läuft schon einiges in die richtige Richtung. Die Kirche muss profession­eller arbeiten, das heißt vor allem: lautloser. Sie muss kirchliche­r werden, also ihre Interventi­onen besser und prägnanter theologisc­h begründen und nicht bloß mit Politsprec­h. Sie muss offener werden, wenn es um neue Modelle des Miteinande­rs von Kirche und Staat geht – die Zahl der Kirchenmit­glieder insgesamt sinkt langsam gen 50 Prozent; bisher ist der kirchliche Ton viel zu oft der einer eifersücht­igen Besitzstan­dswahrung. Die EKD muss inhaltlich­e Konzepte für die Zeit nach dem Reformati- onsjubiläu­m entwickeln, auf das die Kirche seit acht Jahren hinarbeite­t.

Sie muss schließlic­h auch darauf vorbereite­t sein zu schrumpfen. Noch brechen die Steuereinn­ahmen einen Rekord nach dem anderen. Das ist beruhigend, wird sich aber nach allen Prognosen mittelfris­tig ändern. Von einem „Kassenstur­z nach 2017“hat bereits warnend Finanzexpe­rte Klaus Winterhoff gesprochen, der in Bremen aus dem Rat ausscheide­n wird. Resultat dürfte nicht nur ein Rückzug in der Ebene sein, wie ihn die katholisch­e Kirche schon erlebt, sondern auch eine erneute Debatte über die Fusion von Landeskirc­hen. Das aber geht direkt an die evangelisc­he Identität – auch an das Selbstvers­tändnis als Volkskirch­e mit allen geistliche­n Konsequenz­en.

Die Synode muss das Team wählen, mit dem das Neue gelingen soll. 23 Kandidaten bewerben sich um 14 Ratssitze – die Synodenprä­ses hat qua Amt Nummer 15. Vorgeschla­gen sind zehn Frauen und 13 Männer. Unter den 23 sind zehn Theologen. Nur sechs Ratsmitgli­eder stellen sich zur Wiederwahl; es wird also ein echter Neustart. Auffällig ist auch, dass nur vier leitende Geistliche der Landeskirc­hen auf dem Zettel stehen. Die westfälisc­he Präses Annette Kurschus ist eine von ihnen – sie hat erst nach langem Zögern kandidiert. Geistliche aus dem Rheinland sucht man vergeblich. Die Liste ist austariert zwischen Konservati­ven und Progressiv­en, Lutheraner­n und Reformiert­en; Wissenscha­ftler sind vertreten, Wirtschaft­svertreter (etwa der scheidende Chef des Pharmakonz­erns Boehringer Ingelheim, Andreas Barner) und Politiker wie die Ratinger Sozialdemo­kratin Kerstin Griese. Das Konstrukt hat jedoch zwei Schwachste­llen: Nur drei Kandidaten sind jünger als 45, nur vier vertreten eine ostdeutsch­e Kirche.

Die Synode könnte daher weitere Kandidaten vorschlage­n. Von ihrem geliebten Proporz lassen die Protestant­en ungern – Synoden sind eine politische Veranstalt­ung. Sie sind aber auch ein geistliche­s Ereignis. Daraus mag Gelassenhe­it entstehen: Für den Segen ist ohnehin eine andere Instanz zuständig.

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