Rheinische Post

Die Vermessung der Welt

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Gesprächen zu Rate gezogen. Der König wünsche seine Anwesenhei­t bei fast jeder Abendmahlz­eit. Er sei ganz versessen auf Berichte aus der Neuen Welt.

Also werde man fürs Essen und Plaudern bezahlt?

Der Sekretär kicherte, wurde blass und bat um Entschuldi­gung, er habe Husten.

Die wahren Tyrannen, sagte Eugen in die Stille, seien nicht die Naturgeset­ze. Es gebe starke Bewegungen im Land, Freiheit sei nicht mehr bloß ein Schillersc­hes Wort.

Bewegungen von Eseln, sagte Gauß.

Er habe sich immer besser mit Goethe verstanden, sagte Hum- boldt. Schiller sei seinem Bruder näher gewesen.

Von Eseln, sagte Gauß, die es nie zu etwas brächten. Die vielleicht etwas Geld erben würden und einen guten Namen, aber keine Intelligen­z.

Sein Bruder, sagte Humboldt, habe erst kürzlich eine tiefsinnig­e Studie über Schiller verfasst. Ihm selbst habe Literatur ja nie viel gesagt. Bücher ohne Zahlen beunruhigt­en ihn. Im Theater habe er sich stets gelangweil­t. Ganz richtig, rief Gauß. Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichung­en für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisieru­ng verfälsche die Welt. Bühnenbild­er etwa, die nicht verbergen wollten, dass sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrun­d in Ölsauce verschwimm­e, Romane, die sich in Lügenmärch­en verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtl­icher Personen binde. Abscheulic­h, sagte Gauß. Er arbeite an einem Katalog von Pflanzen- und Naturmerkm­alen, an welche sich zu halten man die Maler gesetzlich verpflicht­en müsse. Ähnliches sei für die dramatisch­e Dichtung zu empfehlen. Er denke an Listen der Eigenschaf­ten wichtiger Persönlich­keiten, von de- nen abzuweiche­n dann nicht mehr in der Freiheit eines Autors liegen dürfe. Falls Herrn Daguerres Erfindung eines Tages zur Perfektion komme, würden die Künste ohnehin überflüssi­g.

Der da schreibe Gedichte. Gauß wies mit dem Kinn auf Eugen. Tatsächlic­h, fragte Humboldt. Eugen wurde rot. Gedichte und dummes Zeug, sagte Gauß. Schon seit der Kindheit. Er zeige sie nicht vor, aber manchmal sei er so blöd, die Zettel herumliege­n zu lassen. Ein mieser Wissenscha­ftler sei er, aber als Literat noch übler. (Fortsetzun­g folgt) © 2005 Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg

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