Rheinische Post - Xanten and Moers

Kontrolle mit der Merkel-Raute

Nach der Premiere in Düsseldorf gab’s das Ballett „True Crime“nun in Duisburg.

- VON INGO HODDICK

Der Titel sagt schon, worum es darin geht, nämlich um den seit etwa 2010 in Presse und Unterhaltu­ng florierend­en Trend, sich mit wahren Verbrechen zu befassen. Die neue Produktion versucht nun, dieses Phänomen auf die Ebene der Künste zu heben. Der Abend hat drei Teile, die jeweils ganz neu von einer anderen Person choreograp­hiert wurden. Zusammen gehalten wird das Ganze erstens von den Absprachen der drei Choreograp­hierenden, zweitens von dem aus mehr oder weniger bekannten Versatzstü­cken aus Geräuschen, Musik und (überwiegen­d englischer) Sprache zusammen gesetzten, aus rund um das Publikum verteilten Lautsprech­ern ertönenden Sounddesig­n von Christoph Kirschfink und drittens dem surrealen Bühnenbild von Sebastian Hannak, das im Laufe der Zeit immer mehr Raum gibt. Erwähnt werden müssen noch die dreimal unterschie­dlichen, aber spannend sprechende­n Kostüme von Bregje van Balen.

Andrey Kaydanovsk­ijs erster Teil „Chalk“spielt an einem verlassene­n Tatort und begleitet vier Wahrheitss­uchende, die mal in die Rolle des Opfers, mal der Täterin oder des Täters und mal des Ermittlers oder der Ermittleri­n schlüpfen, kantig-charismati­sch verkörpert von Clara Nougué-Cazenave, Elisabeth Vincenti, Orazio Di Bella und Miguel

Martínez Pedro. Der Titel bezieht sich auf jenen Kreidestri­ch, der auf dem Boden die Umrisse der abwesenden Leiche andeutet.

Dann zeigt Hege Haagenrud im zweiten Teil „The Bystanders“, also die unbeteilig­t Zuschauend­en, um nicht zu sagen Gaffer. Das Besondere bei der jungen norwegisch­en Choreograp­hin ist, dass sie die Tanzenden zu der aus dem Off zu hörenden Sprache die Münder bewegen lässt.

Das Programmhe­ft enthält dankenswer­ter Weise einen Auszug aus dem umfangreic­hen Glossar von Haagenruds „Zeichenspr­ache“, die bestimmte Begriffe zwingend in ebenso bestimmte, teils verstärken­de und teils parodieren­de Bewegungen und Gesten übersetzt. Da wird zum Beispiel „Kontrolle“durch die Merkel-Raute übersetzt, die „Wahrheit“aber durch je zwei Finger der erhobenen Hände in anzweifeln­de Anführungs­striche gesetzt.

Noch-Ballettdir­ektor Demis Volpi ließ sich schließlic­h von dem Tatsachen-Roman (“non-fictional novel“) „In Cold Blood“(“Kaltblütig“, 1966) von dem vor 100 Jahren geborenen und vor 40 Jahren gestorbene­n Truman Capote zu dem dritten Teil „Non-Fiction Études“inspiriere­n. Der US-Autor, der im Stück auch im näselnden O-Ton zu hören ist, beeinfluss­te mit seiner Recherche zu einem echten Mehrfach-Mord wahrschein­lich sogar den darauf folgenden Gerichtspr­ozess und ging letztlich daran zu Grunde.

Dieser Teil entspricht am ehesten einem konvention­ellen Begriff von „Ballett“. Daran ist auch der Pianist Aleksandr Ivanov beteiligt, der auf der Bühne in einer Art Käfig aus den „Études-Tableaux“von Sergej Rachmanino­w spielt, vier aus op. 33 und fünf aus op. 39. In Erinnerung bleiben hier vor allem die intensiven Solopassag­en von Courtney Skalnik, deutbar als Capotes Kollegin und platonisch­e Freundin Harper Lee. Natürlich geht es hier nicht um konkrete Kriminalfä­lle, sondern vielmehr um grundsätzl­iche Fragen nach dem Wesen der Wahrheit. Mit verbindlic­hen Antworten kann und will auch dieses Kunstwerk nicht dienen.

Es gibt noch Karten für die beiden letzten Vorstellun­gen am Samstag, 30. März, um 19.30 Uhr, und am Ostersonnt­ag, 1. April, um 18.30 Uhr, am einfachste­n im Internet unter www.theater-duisburg.de.

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FOTO: SENZEK „The Bystanders“mit Joaquin Angelucci und Imogen Walters.

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