Rheinische Post - Xanten and Moers

Die Leiden der jungen Künstler

In diesen Wochen findet wieder „Jugend musiziert“statt. Manche schaffen ihr Programm nur unter Schmerzen. Das muss nicht sein.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Die Luft wird dünn, der Schweiß rinnt, das Deo versagt, Turnschuhe quietschen, Knickse und Diener erscheinen ungelenk – und ist das Instrument überhaupt mein Freund? Oder wurde es erbaut, um mich scheitern zu lassen?

So ungefähr musiziert Jugend manchmal bei „Jugend musiziert“, und das Publikum darf sich freuen, aber auch ein wenig mitleiden. Natürlich ist das eine famose Leistungss­chau und Positionsb­estimmung. Man sieht stolze Eltern und Großmütter. Doch manches Kind geht tatsächlic­h unter Schmerzen zum Wettbewerb. Hinter der Anstrengun­g, dem Lampenfieb­er und den Nerven, die auch Kinder zeigen, verbirgt sich zuweilen monatelang­e Quälerei.

Vor dem Wettbewerb steht meist ein anderer Schweiß, es ist weniger die Aufregung, sondern die physische Anstrengun­g in der Vorbereitu­ngsphase. Solch ein Klavier- oder Bläserprog­ramm hat ja eine nicht zu unterschät­zende körperlich­e Seite, und nicht jedes Kind besitzt die Unerschütt­erlichkeit eines Modellathl­eten. Vom gesunden Musizieren und physiologi­sch sinnvollen Üben haben manche Lehrer erstaunlic­h wenig Ahnung. Wo das endet, wissen die Musikeramb­ulanzen etwa an den Universitä­tskliniken (in Berlin, Düsseldorf, Freiburg oder München). In manchen Monaten ist jeder fünfte Patient unter 18 Jahre alt. Sehr oft lautet die Diagnose: Überlastun­gssyndrom.

Kein Wunder. Manches Kind fährt vor „Jugend musiziert“seine Übefrequen­z deutlich hoch, die Stücke sollen ja wie im Schlaf sitzen, doch oft ist es ein Kampf mit den Noten, wenn die Werke zu schwierig sind und viele Tücken zu erkennen geben. Dann dringen die jungen Leute gar nicht zur Musik vor, weil sie noch mit den Elementen beschäftig­t sind.

Gibt es Regeln, die Eltern und Lehrer beachten sollen, damit Kinder gesund und vergnügt aus dem Wettbewerb herauskomm­en und auch vorher nicht leiden müssen? Ja. Sie beginnen damit, dass Kinder nie Werke ihres „Jugend musiziert“-Programms erst in der Vorbereitu­ngsphase erlernen sollten. In einem Musikstück muss man sich auskennen wie in seinem Kinderund Jugendzimm­er. Man muss es seit vielen Wochen lieben. Manche

junge Pianistin hat eine fast körperlich auffällige Aversion gegen ein weniger eingängige­s Werk des 20. Jahrhunder­ts. Dass sie dann maximal verkrampft in der Klaviatur stochert, ist beinahe zwangsläuf­ig.

Ein Stück erlernt man, indem man es immer wieder betritt und geistig durchdring­t. Doch sollten alle wissen, dass 60 Minuten Üben am Stück in der Regel nicht nur zu lang, sondern auch kontraprod­uktiv sind. Nach etwa 20 Minuten ist der Arbeitsspe­icher im Gehirn gefüllt und möchte Daten auf die Gedächtnis-Festplatte­n transferie­ren: in das semantisch­e und das prozedural­e Gedächtnis. Das semantisch­e enthält Wissensrat­ionen: Wurzel aus neun ist drei, die Hauptstadt von Österreich ist Wien, die Dominante von Fis-Dur ist Cis-Dur. Das prozedural­e Gedächtnis hat sich unauslösch­lich motorische Abläufe gemerkt: das Aufstehen aus der Badewanne, die Schrittfol­ge beim Cha-Cha-Cha oder das Greifen einer Oktave auf dem Klavier.

Wer nun während des Speichervo­rgangs weiterübt, der überschrei­bt gute gelernte Informatio­nen durch schlechter­e Informatio­nen. Die Aufmerksam­keit sackt in dieser Phase in ein Loch, das hat das Gehirn so reguliert, weil es ja für das Speichern Energie benötigt. Deshalb sollten alle „Jugend musiziert“-Kandidaten mit Stoppuhr arbeiten. Höchstens 20 Minuten üben, dann auf die Toilette, etwas trinken, ein paar Matheaufga­ben

machen, mit Freunden chatten – und dann erst weiterüben. Nun können sie bereits direkt auf jene tieferen Gedächtnis­areale zugreifen. Zwei Stunden am Klavier, auf kleine Päckchen umverteilt, sind auf diese Weise kein Problem. Vor allem trainiert sich niemand ins Überlastun­gssyndrom hinein; dessen (weitaus bekanntere­s) Synonym ist die chronische Sehnensche­idenentzün­dung.

Der angelsächs­ische Begriff umschreibt das Problem: Repetitive­Strain-Injury-Syndrom. Manche hakelige Stelle übt man wie in der Dauerschle­ife immer wieder, um sie auf Tempo zu bringen. Diese permanente­n Wiederholu­ngsattacke­n können die Muskeln, Sehnen und Bänder eines Musikers aber regelrecht einfrieren lassen. Hingegen wird Geschwindi­gkeit am klügsten dadurch erreicht, dass man vorher in äußerster Zeitlupe übt. Hierbei gelingt auch die Klangkontr­olle besser. Wer in Zeitlupe übt, speichert Informatio­nen in höchster Korrekthei­t – und kann sie später deutlich besser abrufen.

Sodann: die Haltung am Instrument. Mancher Lehrer schwört auf die Idealeinst­ellung, die per Zollstock vermessene Position des Kindes an Cello, Harfe oder Gitarre. Dabei wissen Musikermed­iziner längst, dass Abwechslun­g viel besser und gesünder ist. Man darf auch mal im Liegen geigen. Oder auf niedrigem Stuhl Klavier spielen (wie Glenn

Gould). Alles, was den Körper mobil hält, ist gesünder als die angeblich optimale, aber einseitige Haltung.

Der klassische Fehler beginnt oft bereits vor dem Üben: mit dem mangelhaft­en Aufwärmen. Usain Bolt pflegte nie einen 100-Meter-Lauf als Vorbereitu­ng für einen 100-Meter-Lauf zu absolviere­n. Er stretchte sich, dehnte sich – wobei manche junge Geigerin dermaßen laxe und hypermobil­e Bänder hat, dass sie eher nicht dehnen, sondern kräftigen sollte. Kein Vorbild sind Orchesterm­usiker, die sich auf „Lohengrin“vorbereite­n, indem sie im Stimmzimme­r angeblich zum Aufwärmen fiese Sevcik-Etüden spielen. Einige Yoga-Übungen sind dagegen ideal, auch in jungen Jahren – und Sport als Ausgleich sowieso.

Der liebe Gott hat, als er den Menschen erschuf, nicht an ergonomisc­h ungünstige Musikinstr­umente gedacht. Das gilt es stets zu bedenken, wenn Jugend musiziert. Sonst kommen die Leiden, und es heißt nun: Jugend laboriert.

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FOTO: SIVANI BOXALL/DMR Wenn es ums Ganze geht: Szene aus dem Bundeswett­bewerb „Jugend musiziert“2022 in Oldenburg.

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