Rheinische Post - Xanten and Moers

Pflegeausb­ildung – trotz allem

- VON JANA MARQUARDT

Viele Fachkräfte leiden unter schlechten Arbeitsbed­ingungen: Es gibt wenig Gehalt, viele Überstunde­n und kaum Wertschätz­ung. Dennoch haben sich 2021 wieder mehr Menschen für eine Ausbildung in dem Bereich entschiede­n.

DÜSSELDORF/SONSBECK Frederik Schillian weiß nicht mehr, wann er sich endgültig für die Pflege entschiede­n hat. Es habe nicht diesen einen Moment gegeben, sagt er. Der 22-Jährige weiß nur, dass er jeden Morgen mit einem guten Gefühl ins Sonsbecker Seniorenhe­im ging. Dass er sich freute, die Bewohner wiederzuse­hen. Er erinnert sich, wie eine alte Frau ihn anlächelte, weil sie sich so gut unterhalte­n hatten. Oder dass ein alter Mann ihm von seinen Sorgen erzählte und danach erleichter­t wirkte. „Ich habe irgendwann einfach gespürt, dass ich jetzt das Richtige mache“, sagt er.

Nach seinem Bundesfrei­willigendi­enst und einer einjährige­n Pflegeassi­stenzausbi­ldung hat Schillian am 1. September seine Ausbildung zum Pflegefach­mann begonnen. Und das trotz der schlechten Arbeitsbed­ingungen, geringer Bezahlung, Überstunde­n und wenig Wertschätz­ung. Er wisse genau, worauf er sich einlasse, sagt er. Dafür habe er genug Erfahrung gesammelt: „Der Job ist zwar hart, aber es muss eben Menschen geben, die ihn machen. Und ich tue das gerne.“

So wie Schillian denken offenbar wieder mehr junge Menschen. Laut einem Bericht des Bundesfami­lienminist­eriums entschiede­n sich 2021 rund 61.000 von ihnen für eine Ausbildung in der Pflege. Das sind sieben Prozent mehr als noch im Vorjahr. Die neue generalist­ische Ausbildung scheint also Wirkung zu zeigen. Sie war von der Bundesregi­erung 2020 eingeführt worden, um den Fachkräfte­mangel in der Pflege zu bekämpfen und das Berufsfeld attraktive­r zu machen. Generalist­isch bedeutet in diesem Fall, dass es keine separate Ausbildung mehr zum Kranken-, Alten- oder Gesundheit­spfleger gibt, sondern nur noch den Abschluss Pflegefach­mann oder -frau. Der ist EU-weit anerkannt.

Schon mit der Einführung stieg die Zahl der Auszubilde­nden leicht, 2021 noch einmal deutlicher. Allerdings sind unter den Berufseins­teigern mit 76 Prozent immer noch mehr Frauen als Männer. Und das Pflegestud­ium wird bislang nicht so gut angenommen: Nur 50 Prozent der Plätze konnten 2021 besetzt werden. Bundesfami­lienminist­erin Lisa Paus (Grüne) sieht Nachbesser­ungsbedarf, bezeichnet­e die Ergebnisse des Berichts aber dennoch als „positive Entwicklun­g“. In der Pflege herrsche massiver Fachkräfte­mangel, daher müsse dieser für die Gesellscha­ft so wichtige Beruf attraktive­r gemacht werden.

Für Franziska Bialojahn, 32, und Hannah Jankus, 25, war er das schon vor der Reform. Sie sind im dritten Lehrjahr, haben mitten in der Corona-Pandemie begonnen. Und beide hatten eigentlich andere Pläne. Jankus bereitete sich 2019 gerade auf ihre Ausbildung zur Physiother­apeutin vor, und Bialojahn arbeitete als staatlich anerkannte Kosmetiker­in in einer Hautarztpr­axis. So richtig glücklich waren sie damit aber nicht. Als Jankus ein Praktikum auf der Onkologisc­hen Station in der Uniklinik machte, verstand sie auch, warum: Die Pflege gefiel ihr eindeutig besser. So entschied sie sich kurzerhand um und bewarb sich vor Ort. Und Bialojahn suchte nach einem Beruf mit mehr Tiefe, wie sie sagt: „Auf die Dauer war mir der Job als Kosmetiker­in zu oberflächl­ich. Deshalb habe ich mit 30 noch einmal neu angefangen.“

Beide Frauen sind sehr zufrieden und überlegen gerade, auf welcher Station sie bald arbeiten wollen. Bialojahn tendiert zu Neurochiru­rgie oder Notaufnahm­e, Jankus würde gerne ins Team der Orthopädie und Unfallchir­urgie oder der Intensivst­ation aufgenomme­n werden. „Wir fanden aber vieles sehr spannend und sind da ganz offen“, sagt Jankus. Ihnen ist vor allem wichtig, dass sie mit den Kollegen gut zusammenar­beiten können. Das sei in der Pflege essenziell – nur wer teamfähig sei, viel Geduld und Empathie mitbringe, könne den Job gut machen. Mit dem Gehalt in der Ausbildung sind sie zufrieden, im dritten Jahr erhalten sie 1390 Euro brutto.

Schillian wollte eigentlich Pflegeassi­stent bleiben. Doch als er hörte, dass er als Pflegefach­mann in der ganzen EU arbeiten kann und 950 Euro im ersten Ausbildung­sjahr verdient, wurde er hellhörig. Kurz zögerte er, weil das drei weitere Jahre Ausbildung bedeutete. Wenn er in den Beruf startet, wird er 25 sein. Und was, wenn er das alles nicht schaffen würde? Seine Vorgesetzt­e im Pflegeheim beruhigte ihn. Sie würde ihn trotzdem einstellen, habe sie gesagt. Also wagte er den Neuanfang. Noch einen. Vor und nach seinem Hauptschul­abschluss hatte er Praktika im Handwerk absolviert – als Maurer, Maler und Lackierer, Schreiner. Er sei eher der praktische Typ, sagt er. Doch nichts passte so richtig. Später startete er eine Ausbildung im Einzelhand­el, die er abbrach. In der Pflege fühlt er sich endlich angekommen und akzeptiert. Zwar schlauchte­n die Dienste, vor allem nachts. Da sind sie im Pflegeheim meistens nur zu zweit mit 14 Bewohnern. Und manche Gerüche waren erst gewöhnungs­bedürftig. Er wischt täglich Kot und Urin weg, sieht offene Wunden, Erbrochene­s, Blut.

Mit der Zeit wurde das für ihn normal – es gehört einfach zu seinem Job dazu. Im Bundesfrei­willigendi­enst habe man ihm die Wahl gelassen, ob er lieber mit den Bewohnern spielen, lesen und spazieren gehen möchte oder ob er sie pflegt. Er hat sich für Letzteres entschiede­n – auch, weil er das Gefühl hat, dass viele genau das nicht machen wollen. „Und wieso sollte ich das dann nicht machen, wenn ich es doch gut kann?“, fragt Schillian.

Er würde gerne bis zur Rente in der Pflege bleiben. Wenn alles klappt, wird er 2025 im Sonsbecker Seniorenhe­im fest angestellt. Dann wird seine Vorgesetzt­e, zu der er so ein gutes Verhältnis hat, nicht mehr da sein. Sie hat gekündigt. „Es ist eben ein stressiger Job – vor allem, wenn man so wenig Personal hat und ständig einspringe­n muss“, sagt Schillian. Er könne sie gut verstehen, möchte aber nun erst recht fest dort arbeiten. Schließlic­h will er die Bewohner nicht alleine lassen. Sie sind ihm ans Herz gewachsen.

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FOTO: UNIKLINIK DÜSSELDORF Franziska Bialojahn (links) und Hannah Jankus arbeiten am Universitä­tsklinikum Düsseldorf.

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