Rheinische Post - Xanten and Moers
Jeden Tag fehlen drei Lernstunden
Das UN-Kinderhilfswerk beklagt, die Corona-Pandemie gefährde nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Bildung. Wirtschaftsforscher konstatieren 40 Prozent weniger Lernzeit im Lockdown. Manche Eltern sehen aber auch Vorteile.
MÜNCHEN/KÖLN (dpa/epd/kna) Mehr gedaddelt als gelernt: Deutsche Kinder und Jugendliche haben einer Umfrage zufolge während der Schulschließungen zu Jahresbeginn mehr Zeit mit Computerspielen, sozialen Netzwerken oder ihrem Handy verbracht als mit Lernen. Jeden Tag gingen ihnen dabei im Vergleich zur Zeit vor Corona mehr als drei Stunden Lernzeit verloren, wie das Münchner Ifo-Institut am Dienstag mitteilte. Und die Debatte um Inzidenzgrenzen für weitere Schulschließungen hält an.
Statt 7,4 Stunden täglich – wie vor der Pandemie – lernten die Schüler der Umfrage zufolge im Schnitt nur noch 4,3 Stunden. Das ist zwar etwas mehr als im ersten Lockdown, doch die Bildungsforscher des Ifo-Instituts sind von der Politik enttäuscht: Auch mit „langer Vorlaufzeit und nach eindringlichen Appellen von Eltern und Wissenschaft“sei es nicht gelungen, eine angemessene Beschulung aller Kinder im Distanzunterricht sicherzustellen, schreiben sie.
Studienleiter Ludger Wößmann kritisierte, dass nur eines von vier
Kindern täglichen Onlineunterricht bekommen habe. Dieser müsse so schnell wie möglich allen Schülern zugänglich gemacht werden. Und das sei nicht Aufgabe der Schulen sondern der Politik. Am besten wäre es, wenn die Bundesländer einheitliche Lösungen fänden, sagte er. Man brauche klare und verbindliche Konzepte für den Onlineunterricht. In vielen Bereichen fehle es dabei weniger am Geld als daran, dass auch gehandelt werde.
Bei manchen Kindern ist der Lernausfall sogar noch deutlich höher als die durchschnittlichen 3,1 Stunden. „Besonders bedenklich ist, dass 23 Prozent der Kinder sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit der Schule beschäftigt haben“, sagte Wößmann. „Die Corona-Krise ist eine extreme Belastung für die Lernentwicklung und die soziale Situation vieler Kinder.“Die Schulschließungen wirken sich dabei auch auf die Gesundheit aus: So sagten 31 Prozent, dass ihr Kind in der Zeit zugenommen habe – unter anderem durch Bewegungsmangel.
Doch nicht für alle Kinder sind die Schulschließungen negativ. Gut ein
Viertel der Eltern (28 Prozent) ist der Meinung, dass sie ihren Kindern sogar mehr genutzt als geschadet haben. Hier geht es unter anderem darum, dass Kinder seltener schikaniert wurden. Zudem berichteten zwei Drittel, ihr Kind habe gelernt, besser mit digitalen Technologien umzugehen. Und 54 Prozent sagten, ihr Kind habe gelernt, mit Krisen gut umzugehen.
Die vielfältigen Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens in der Pandemie gefährden nach Einschätzung des UN-Kinderhilfswerks Unicef nicht nur die Bildungserfolge junger Menschen, sondern haben auch weitreichende Folgen für ihr gesamtes Wohlbefinden und ihre Entwicklung.
Der Unicef-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2021, der am Dienstag vorgestellt wurde, zeige, dass Deutschland bei der Zufriedenheit der Kinder schon vor der Pandemie im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld gewesen sei, sagte der Unicef-Vorstandsvorsitzende Georg Graf Waldersee. Mängel, die auch vorher schon da gewesen seien, würden jetzt „schonungslos offengelegt“. Dazu gehörten zum Beispiel Defizite bei der digitalen Ausstattung der Schulen.
„Kinder brauchen andere Kinder“, betonte auch der Autor des Unicef-Berichts, der Familiensoziologe Hans Bertram. Gerade für jüngere Kinder in der Grundschule sei der Präsenzunterricht eine zwingende Voraussetzung, um eine Gleichheit der Entwicklungschancen
zu schaffen. 21 Prozent der 15 Jahre alten Mädchen und 13 Prozent der gleichaltrigen Jungen erklärten, mit ihrem Leben unzufrieden zu sein. 16 Prozent der jungen Frauen in Deutschland schätzten sich selbst als depressiv ein. 13 Prozent erhielten verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel. „Damit weicht Deutschland signifikant von anderen Ländern ab“, so Waldersee.
Zwar erklärten 91 Prozent der befragten Jugendlichen, ihre Eltern als unterstützend zu erleben. Es mehrten sich aber die Hinweise, dass derzeit viele Familien an ihre Grenzen stießen, heißt es in dem Bericht. Demnach gaben bei einer aktuellen Befragung mehr als die Hälfte von 1000 Eltern in Deutschland an, dass die Kontaktbeschränkungen sowie die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten den Stress in ihren Familien deutlich erhöht haben. Ein Teil berichtete zudem von einem gestiegenen aggressiven Verhalten gegenüber den Kindern.
Nach wie vor hätten Kinder aus Einwandererfamilien sowie von Alleinerziehenden schlechtere Startchancen, heißt es in dem Report.