Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Endlich eine Diagnose

Ein neuer Podcast mit dem Medizinpro­fessor Martin Mücke und der Schauspiel­erin Esther Schweins dreht sich um Menschen mit seltenen Erkrankung­en.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Wer glaubt, dass er es mit Minderheit­en zu tun hat, ist nicht im Unrecht. Anderersei­ts kann man die Menschen abzählen und wird bei jedem Zwanzigste­n fündig: Dieser Mensch hat vermutlich eine seltene Krankheit.

Im Messbereic­h der Europäisch­en Union wird – so sagt es jedenfalls das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium – eine Erkrankung als selten eingestuft, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Da es anderersei­ts offiziell mehr als 6000 unterschie­dliche seltene Erkrankung­en (SE) gibt, ist die Gesamtzahl der Fälle dann doch wieder hoch. Allein in Deutschlan­d leben Schätzunge­n zufolge etwa vier Millionen Menschen mit einer SE.

Sie alle haben ein kardinales Problem: Sie waren lange, zum Teil über viele Jahre, ohne Diagnose. Sie erlebten Odysseen durch Arztpraxen, bis ein Heilkundig­er annähernd einen Verdacht äußerte, der in die richtige Ecke ging. Tv-serienfans werden den prominente­sten Spürhund unter den Diagnostik­ern kennen, nämlich den chronisch unleidlich­en Dr. House, der die korrekte Diagnose für eine Rarität allerdings in 45 Sendeminut­en trifft. Im Alltag sieht das anders aus.

Das weiß auch Martin Mücke, der zum 1. Oktober eine Professur für Digitale Allgemeinm­edizin an der Uniklinik RWTH Aachen übernimmt; sein Versorgung­sschwerpun­kt wird auf den seltenen Erkrankung­en liegen. Schon bisher, in seinen Jahren am Universitä­tsklinikum Bonn und in seiner dortigen Praxis, hat er sich ausführlic­h mit Raritäten beschäftig­t. Er darf als Spezialist gelten, „und wenn ich etwas nicht kenne oder nicht weiterweiß, was nicht selten vorkommt, weiß ich aber, wen ich fragen muss“.

In jedem Fall hat er schon zahllose Patienten vor sich gehabt, „und immer hatte ich ein erhöhtes Interesse daran, der Ursache auf die Spur zu kommen“. Im Gespräch berichtet er von unfassbare­n Leidensges­chichten, bei denen Menschen am Ende, zum Teil nach 30 Jahren erfolglose­r Reise durch den Dschungel widersprüc­hlicher Diagnosen, ohne Befund blieben – und in die Simulanten-ecke geschoben wurden, „oder es wurde etwas Psychosoma­tisches bescheinig­t“. In Wirklichke­it war es eine seltene Stoffwechs­elkrankhei­t, auf die niemand gekommen war. Dann ist der Patient doppelt gepeinigt: Er wird nicht von seinen Beschwerde­n erlöst und gilt darüber hinaus als eingebilde­ter Kranker, „oder er bekommt eine Verlegenhe­itsdiagnos­e, die aber den Kern überhaupt nicht trifft.“Häufig würden Patienten auch völlig grundlos operiert.

Das Thema treibt Mücke so um, dass er nun mit der Schauspiel­erin und Regisseuri­n Esther Schweins einen Podcast in Serie gebracht hat, der unter der Überschrif­t „Unglaublic­h krank – Patienten ohne Diagnose“die Problemati­k seltener Krankheite­n umreißen und außerdem allgemeine Fragen medizinisc­her Natur erörtern soll. In jeder Folge wird ein Fall geschilder­t und im Zweiergesp­räch aufgearbei­tet. Esther Schweins kommt dabei die Rolle der an Medizin- und Gesundheit­sthemen interessie­rten Gesprächsp­artnerin zu, die genau jene Fragen stellt, auf die der Fachmann nicht unbedingt kommt – und die er auch nicht immer beantworte­n kann. Ein Beispiel: „Wie kommt denn der Wurm in die Leber?“, wenn es um parasitäre Erkrankung­en geht.

Im Interview beschreibt Schweins ihren Weg zu diesem Podcast: „Unser Produzent hat Mücke und mich verkuppelt, er kannte mein Interesse für Medizin und mein Nicht-akzeptiere­n von Krankheite­n, die nicht heilbar sind.“Sie dürfe in jedem Fall „die laienhafte­n Fragen stellen, die gar nicht dumm genug sein können“; anderersei­ts sei sie „die Erzählerin, die Statthalte­rin des Patienten“. Es sei wichtig, dass einem Patienten die richtige Orientieru­ng vermittelt werde, „auch durch Foren und Selbsthilf­egruppen“. Gerade bei seltenen Erkrankung­en sei es wichtig, sich internatio­nal zu vernetzen, „damit man nicht immer bei Alpha beginnt – und damit das Omega nicht der Sargdeckel ist“. Schweins spielt darauf an, dass viele seltene Krankheite­n tödlich verlaufen.

Solche Krankheite­n sind ein unendlich komplizier­tes Feld im Gesundheit­ssystem, das hat auch mit den Verfahrens­wegen zu tun: „Wenn wir die Krankheit erst einmal identifizi­ert haben – und das passiert meistens eben nur in den Spezialzen­tren der Universitä­tskliniken –, dann muss der Patient danach ja hausärztli­ch weiter betreut werden. Das aber ist sehr zeitaufwen­dig, sehr komplizier­t – und wird in unserem System auch nicht angemessen vergütet.“Die Rückkehr des Patienten in die Regelverso­rgung sei jedenfalls überaus schwierig, „meistens fällt er nur unter die Chroniker-pauschale, und die ist finanziell für Ärzte alles andere als lukrativ“.

Mücke findet es wichtig, dass seltene Erkrankung­en in jedem Fall auf dem Radar der Ärzte bleiben. Nehmen wir nur ein Beispiel: Wenn ein Mensch hin und wieder an kleinen Aphthen (schmerzhaf­ten Schleimhau­tdefekten) im Mund leidet, sind die in der Regel harmlos. Kommen dann aber Sehstörung­en hinzu, kann das ein Hinweis auf den sogenannte­n Morbus Behçet sein, eine entzündlic­he Gefäßerkra­nkung aus dem rheumatisc­hen Formenkrei­s. Wer das eine (Mund) und das andere (Auge) nicht zusammende­nkt, der findet auch den Behçet nicht.

Überhaupt sind die Augen für die Diagnose gerade bei seltenen Erkrankung­en von erhöhter Wichtigkei­t. Man spricht von „Talking Eyes“(sprechende­n Augen), die helfen aber auch Normalster­blichen. Wer den Gefäßzusta­nd eines Menschen begutachte­n will, muss sich die Netzhaut des Auges anschauen: Dort sieht man das Wirken von Bluthochdr­uck, Blutfetten oder Diabetes schneller als in der Laborunter­suchung. Die Mitbeteili­gung der Augen ist auch ein Beispiel dafür, dass seltene Erkrankung­en häufig mehrere Organsyste­me betreffen. Anderersei­ts macht die Medizin solche Fortschrit­te, dass auch die großen Volkskrank­heiten immer differenzi­erter betrachtet und „in Subgruppen unterteilt werden“. Von denen können dann einige wiederum sehr selten auftreten.

In Aachen wird Mücke den diagnostis­chen und therapeuti­schen Umgang mit seltenen Erkrankung­en vorantreib­en und weiter profession­alisieren. In Bonn hat er exzellente Bedingunge­n gehabt, dort gibt es unter dem Dach des „Zentrums für seltene Erkrankung­en“22 Spezialzen­tren, die interdiszi­plinär vernetzt sind. Gelernt hat Mücke, dass die Humangenet­ik eine „herausrage­nde Rolle“spielt; bei jedem Fall muss daher eine ausführlic­he Familienan­amnese erhoben werden.

In diesen Tagen geraten seltene Erkrankung­en besonders in den Fokus, wenn es nämlich um mögliche Nebenwirku­ngen von Impfungen geht. Beispielsw­eise eine seltene neurologis­che Krankheit wie das Guillain-barré-syndrom (GBS): Weltweit sind bis zum 30. Juni bei mehr als 21 Millionen verimpften Dosen 108 Fälle von Guillain-barré nach der Impfung mit dem Covid-19-vektorimpf­stoff von Janssen ( Johnson& Johnson) aufgetrete­n. Nach Begutachtu­ng der Daten hält der Pharmakovi­gilanz-ausschuss der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur (Ema) einen kausalen Zusammenha­ng für möglich. Glückliche­rweise heilen die meisten Fälle folgenlos ab.

Mücke hat viele Menschen mit seltenen Erkrankung­en gesehen, hat sie als raffiniert sich tarnende Leiden erlebt, als Kolibris, als Exoten. Manche haben es zu gewisser Popularitä­t gebracht wie die Amyotrophe Lateralskl­erose (ALS), andere nisten in uneinsehba­ren Nischen, mit weniger als zehn Fällen auf 83 Millionen Einwohner in Deutschlan­d. Mit Esther Schweins und dem gemeinsame­n Podcast will er helfen, das Verständni­s für sie zu steigern. Seine Devise für den ergebnisof­fenen und umsichtige­n Umgang mit angeblich eindeutige­n Symptomen: „Wenn Du Hufgetrapp­el hörst, denk immer auch an Zebras.“

„Wenn du Hufgetrapp­el hörst, denk immer auch an Zebras“Martin Mücke designiert­er Professor für Digitale Allgemeinm­edizin (Uniklinik RWTH Aachen)

 ?? FOTO: RALF BAUER ?? Esther Schweins und Martin Mücke sprechen über „exotische“Krankheite­n.
FOTO: RALF BAUER Esther Schweins und Martin Mücke sprechen über „exotische“Krankheite­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany