Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Scholz hat mit links nichts am Hut“

SIGMAR GABRIEL Der frühere SPD-CHEF sieht seine Partei wegen des „katastroph­alen Bildes“der Union fast uneinholba­r vorn.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

NEUSS Er hat viele öffentlich­e Ämter bekleidet und stand sogar acht Jahre lang an der Spitze der SPD. Sigmar Gabriel (62) war ein Vollblutpo­litiker und wortgewalt­iger Redner. In Neuss erhielt er dafür am Wochenende den Deutschen Rednerprei­s des Berufsverb­ands deutschspr­achiger Redner.

Vor kurzer Zeit lag die SPD abgeschlag­en bei 15 Prozent, jetzt hat sie sich mit 25 Prozent in den Umfragen in Führung gesetzt. Seien Sie ehrlich, haben Sie das erwartet? GABRIEL Die Umfragen haben das jedenfalls nicht hergegeben. Vor drei Monaten dachten alle, Frau Baerbock wird Kanzlerin, vor acht Wochen standen die Zeichen für Armin Laschet sehr günstig. Jetzt liegt Olaf Scholz vorne. Die Volatilitä­t der Umfragen ist schon enorm.

Was brachte den Umschwung? GABRIEL Es ist ein weitgehend politikfre­ier Wahlkampf. Was sollen die Menschen dann machen, wenn ihnen die Parteien zu den großen Fragen der Welt und unseres Landes keine Debatte liefern? Dann können sich die Wählerinne­n und Wähler nur noch an den Personen orientiere­n. Und diesmal ist der Wahlkampf – noch mehr als früher – sehr personalis­iert.

Und davon profitiert Scholz – trotz der Schwäche seiner Partei? GABRIEL Die beiden Konkurrent­en von Olaf Scholz haben jedenfalls solch dramatisch­e Fehler gemacht, dass im Grunde nur noch er in der Öffentlich­keit als kanzlerfäh­ig dasteht.

Hat Scholz schon gewonnen? GABRIEL Vorsicht. In diesem Wahlkampf scheint alles möglich zu sein. Aber nach meiner Erfahrung gilt: Wenn Sie zwei Wochen vor der Wahl auf der schiefen Ebene sind, dann beschleuni­gt sich der Abstieg. Für eine abermalige Wende müsste schon sehr viel passieren. Am Ende wollen viele Stimmberec­htigte einfach bei den Siegern sein. Für mich wäre es ein Beitrag zur politische­n Willensbil­dung, wenn vier Wochen vor der Wahl alle Umfragen verboten würden.

Im Wahlkampf werden statt der großen Themen plötzlich kleine Dinge wichtig. War der Lacher von Laschet beim Besuch der Flutopfer wirklich so schlimm?

GABRIEL Das war das Symbol dafür, dass er in der Flutkatast­rophe insgesamt nicht als guter Krisenmana­ger gesehen wurde. Ein Ministerpr­äsident Gerhard Schröder hätte nicht lange mit dem Bund um Hilfen für die Opfer verhandelt, sondern am nächsten Tag 100 Millionen Euro auf den Tisch gelegt, um zu helfen. Das ist für Länder in der Größenordn­ung wie Niedersach­sen oder NRW schnell zu schaffen. Er hätte den Bundestags­wahlkampf vier Wochen ausgesetzt, wäre die ganze Zeit vor Ort gewesen und hätte eine starke Persönlich­keit als Landesvert­reter den Krisenstab leiten lassen und wäre selbst ständig im Austausch mit den Menschen und den Einsatzkrä­ften gewesen. Vielleicht hat Armin Laschet das auch getan, aber keiner hat es gesehen. Man mag es für honorig halten, dass Laschet die Katastroph­e politisch nicht ausgenützt hat. Aber die Menschen wollen in einer Krise sehen und spüren, dass jemand die Führung übernimmt. Und wer das nicht im Kleinen zeigt, dem traut man anschließe­nd nicht zu, ein so großes Land wie Deutschlan­d zu führen.

Was erwarten Sie jetzt?

GABRIEL Eigentlich kommt nach den derzeitige­n Umfragen nur eine Ampel-koalition in Frage. Auf ein

Bündnis mit den Linken werden sich weder Scholz noch die Grünen einlassen. Und Scholz ist ein Sozial-liberaler, mit links hat er nichts am Hut.

Die SPD will die Steuern für die Reichen erhöhen, die FDP will sie senken. Wie passt das zusammen? GABRIEL Am Ende wird es weder Steuererhö­hungen noch wesentlich­e Steuersenk­ungen geben. Die FDP könnte dann sagen, sie habe Steuererhö­hungen verhindert. Aber die Steuerpoli­tik ist nicht die zentrale Frage der neuen Regierung.

Was dann?

GABRIEL Es geht um Antworten auf die großen Herausford­erungen der Welt. Wir brauchen Klimaschut­z und eine gewaltige Transforma­tion der Industrie, wir sind in der Digitalisi­erung drastisch zurückgefa­llen, und wir haben noch keine richtigen Antworten auf den Migrations­druck und die Alterung der Gesellscha­ft. Außerdem geht es um den Zusammenha­lt in Europa und die Lehren aus Afghanista­n. Darüber sollte der Wahlkampf gehen. Aber Politiker und Journalist­en beschäftig­en sich lieber mit Koalitions­spekulatio­nen und der Politik der Politik. Ein schwerer Fehler, der die Menschen von der Politik entfernt.

Welche Lehren ziehen Sie aus der Niederlage des Westens in Afghanista­n?

GABRIEL Das ist eine Zäsur in der Weltgeschi­chte. Das Zeitalter des humanitäre­n Interventi­onismus, also der Einsatz von Waffengewa­lt, um Menschenre­chte, Freiheit und Demokratie durchzuset­zen, ist zu Ende, denn wir sind gescheiter­t, Demokratie und Rechtsstaa­t mit militärisc­hen Mitteln in andere Länder zu exportiere­n. Wer Militär einsetzt, sollte damit die Interessen seines Landes verteidige­n – etwa im Kampf gegen den Terror. Aber mit Militär lassen sich keine Werte durchsetze­n. Aber gerade wir Deutsche haben den Ehrgeiz entwickelt, aktiv am Aufbau einer neuen Nation mitzuwirke­n. Das hat nicht funktionie­rt. Wir sollten künftig bescheiden­ere Ziele haben. Die Terrorstru­kturen von Al-kaida zu zerschlage­n, wäre schon ein ausreichen­des Ziel gewesen, auch wenn danach kein Staat entsteht, der unseren westlichen Demokratie­n ähnelt. Wenn wir als Europäer unsere eigene Demokratie an der Seite der Amerikaner verteidige­n, haben wir schon viel erreicht.

Wir leben in einer Zeit der Wende nach 16 Jahren Angela Merkel. Welcher Kanzler der Bundesrepu­blik hat ihnen am meisten imponiert? GABRIEL Ich kann das nur ganz persönlich beantworte­n. Für mich war Helmut Schmidt der Grund, in die Politik zu gehen. Er hatte die schwerste Wirtschaft­skrise der Nachkriegs­zeit zu meistern. Und er löste das zusammen mit Frankreich­s damaligem Staatspräs­ident Giscard. Er reagierte auf den brutalen Terror der RAF erfolgreic­h mit rechtsstaa­tlichen Mitteln. Das hebt seine Kanzlersch­aft über andere hinaus.

 ??  ??
 ?? FOTO: KOEHLER/IMAGO ?? Simar Gabriel bezeichnet die Niederlage des Westens in Afghanista­n als Zäsur in der Weltgeschi­chte.
FOTO: KOEHLER/IMAGO Simar Gabriel bezeichnet die Niederlage des Westens in Afghanista­n als Zäsur in der Weltgeschi­chte.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany