Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Löw geht mit einem Makel
Es ist ein Ende, das einen Platz in der Fußball-geschichte einnehmen wird. Ausgerechnet nach dem prestigeträchtigen Klassiker gegen England ist Schluss für Bundestrainer Joachim Löw – mit dem Aus im Em-achtelfinale.
LONDON Am Ende haben auch die Beschwörungsformeln nicht geholfen. „Ich spüre eine große Energie bei Jogi Löw“, sagte der reaktivierte Weltmeister Thomas Müller. „Ich gehe mit dem absoluten Fokus, mit Motivation, Konzentration, Vorfreude und Spannung ins Turnier“, versicherte Löw selbst. Sein letztes Turnier als Bundestrainer ist früh Geschichte. Deutschland ist schon im Achtelfinale gescheitert. Statt durchs große Tor geht Löw durch einen Nebenausgang. Sein Ziel bei dieser Europameisterschaft hat er verfehlt, daran gibt es keinen Zweifel. Er hat es zwar nie präzise formuliert, aber ein weiteres Halbfinale (mindestens) zum Abschluss hätte es durchaus sein sollen. Daraus wurde nichts, auch wenn sich sein Team mit durchwachsenen Leistungen durch die schwerste Vorrundengruppe gearbeitet hatte.
Deshalb ist Löw mit seiner Mannschaft nicht derart verheerend untergegangen wie vor drei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Russland. Aber den angepeilten Rückweg an die Spitze Europas hat der nun ehemalige Bundestrainer verpasst.
Dabei hatte er für eine weitere Krönung seiner Laufbahn auf der Zielgeraden noch mal Prinzipien über Bord geworfen. Den lange propagierten Neuaufbau nach dem Untergang von Kasan mit dem 0:2 gegen Südkorea und dem Ausscheiden nach der Wm-vorrunde hat Löw ein paar Wochen vor der EM gestoppt. Er beorderte die Weltmeister Müller und Mats Hummels zurück ins Aufgebot, die er noch vor zwei Jahren bemerkenswert kühl abserviert hatte. Eine späte Einsicht in die Notwendigkeit von Struktur und innerer Führung einer Mannschaft, die viel zu häufig mit viel zu wenig zufrieden war. Eine zu späte Einsicht, kann man jetzt sagen. Denn die richtige Struktur ist in den wenigen Wochen nicht gewachsen. Immerhin sprang Löw über den eigenen Schatten. Nicht ganz uneigennützig, weil der Erfolg den eigenen Abgang vergoldet hätte, aber doch mit einhelligem Beifall der Experten.
Unter ihnen befanden sich viele, die mit gutem Recht Löws Abgang viel früher erwartet hatten – spätestens mit dem fußballerischen Offenbarungseid beim 0:6 im Test in Spanien oder nach dem blamablen Ende der WM 2018 und am besten schon nach der EM 2016. Dass Löw blieb, hat zum einen mit seinem Beharrungswillen, böser ausgedrückt mit seinem sturen Sendungsbewusstsein zu tun, das er selbst in einen grandiosen Satz goss: „Jeder darf Kritik äußern, aber ich stehe über den Dingen.“Puh!
Zum anderen verdankt er den Verbleib im Amt der Führungsschwäche im Deutschen Fußball-bund. Im Herbst 2020 war die Verbandsspitze derart hingebungsvoll in interne Streitigkeiten verstrickt, dass niemand einen Blick für die wichtigste Dfb-mannschaft hatte. Und nach der WM in Russland stellte der inzwischen längst zum Vor-vorgänger gewordene Präsident Reinhard Grindel bereits bei der Rückkehr am Flughafen in Frankfurt einen Freifahrtschein aus. Löw sei der richtige Mann für einen Neuaufbau.
Löw übte zwar öffentliche Selbstkritik, indem er seine taktische Haltung vor dem Wm-turnier als „fast schon arrogant“bezeichnete. Aber seine grundsätzliche Einstellung änderte er nicht.
Schon in seiner besten Zeit, als er 2014 mit seiner Elf den Weltmeistertitel in Rio de Janeiro gewann, begann der Wesenszug, „über den Dingen“zu stehen, die Marke Löw zu dominieren. Entspannt und lässig moderierte er in Mediengesprächen mögliche Probleme hinweg. Bilder wie aus dem Urlaubskatalog beim morgendlichen Joggen am Strand von Campo Bahia illustrieren das. Lässigkeit gehört spätestens seither zum öffentliche Wesen Löw. Damit panzert er sich gegen Angriffe, und im besten Fall war diese Lässigkeit ein Ausdruck größtmöglicher Freiheit in einem Geschäft, das so sehr von den alltäglichen Aufgeregtheiten bestimmt wird.
Dieser Zug aber bewegte sich immer mehr in Richtung Abgehobenheit. Der stets so freundliche und selbst in kritischen Gesprächen entgegenkommende Löw verlor eindeutig den Bodenkontakt. Die Freiheit des Fußballdenkers Löw wich einer gewissen Unbelehrbarkeit. Der Löw der späten Jahre schien zumindest zwischenzeitlich das Interesse an den Niederungen der Realität zu verlieren.
Vielleicht war das kein Wunder. Schließlich hatte der Bundestrainer über viele Jahre vieles, fast alles richtig gemacht. Als Assistent von Jürgen Klinsmann (2004 bis 2006) und als ewiger Chefcoach seither steht er für die fußballerischen Inhalte einer großen Reform, die das Ende des sprichwörtlichen Rumpelfußballs bedeutete und die im WM-TItel 2014 ihre Krönung fand.
Dass Löw diesen Gipfel mit einer goldenen Generation von Spielern bestieg, schmälert den Erfolg in keiner Hinsicht. Kein Nationaltrainer, der Titel gewinnt, kann sein Ziel mit durchschnittlich begabten Fußballern erreichen. Löw musste sich im Sommer 2014 im goldenen Konfettiregen von Maracana ein bisschen unfehlbar vorkommen.
Die Sattheit großer Titelträger ergriff Trainer und Team gleichermaßen. Löws Haltung strahlte in die Mannschaft ab. Und die Tatsache, dass die Dfb-auswahl bei der EM 2016 wie bei allen großen Turnieren zuvor unter Löws Leitung wiederum das Halbfinale erreichte, schien der Haltung Recht zu geben.
Hier aber beginnt Löws Abstieg. Die taktische Tatenlosigkeit vor der WM 2018, das Ignorieren fußballerischer Entwicklungen in der Welt zugunsten des eigenen Entwurfs sind Gründe für den Absturz in Russland. Und der Zickzack-kurs nach dem Vorrunden-aus machte es nicht besser. Zunächst rief Löw die „Achse der Erfahrenen“mit Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller als Gerüst eines Neuaufbaus aus. Dann beorderte er Boateng, Hummels und Müller aufs Abstellgleis, ehe er Hummels und Müller für diese kontinentale Meisterschaft zurückholte. Er probierte verschiedene taktische Systeme aus und beharrte auf Ordnungen, auch wenn sie nicht zum Gegner passten (wie beim Ungarn-spiel in München). Löw verlor sich ein bisschen zwischen Lässigkeit und dem Anschein grimmiger Entschlossenheit („Entscheidungen werden im Sinne des Erfolgs getroffen“).
Das ist schade. Er hätte sich selbst einen besseren Abgang verschaffen können. Der richtige Zeitpunkt wäre wahrscheinlich vor fünf Jahren gewesen. Löw hätte sich als „scho au“absoluter Glücksfall und Erfolgstrainer verabschieden können. Nun geht er mit dem Makel, in gleich zwei Turnieren in Folge sein Ziel nicht erreicht zu haben. Das trübt seine Bilanz. Da geht es ihm nicht besser als anderen prominenten Vorgängern. Sepp Herberger, der das Wunder von Bern 1954 verantwortete, ging erst nach einer ganz schlechten WM 1962. Helmut Schön, der Weltmeister von 1974 und Europameister von 1972, musste nach dem Scheitern bei der WM 1978 in Argentinien die Koffer packen. Auch sie hatten den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpasst.
Doch in dieser Hinsicht ist die Geschichte gnädig. Die Niederlagen am Ende sind vergessen, es bleiben die Titel. Das ist auch für Löw ein Trost. Noch ist es ein schwacher Trost.