Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Vor dem Zusammenbruch
Der Libanon steckt tief in der Krise. Krankenhäuser haben keinen Strom, Tankstellen kein Benzin mehr. Auf den Straßen eskaliert die Situation. Die Lage droht die gesamte Region zu destabilisieren.
Die Armee im Libanon braucht dringend Geld. Schon seit dem vergangenen Jahr gibt es in den Kantinen der Kasernen kein Fleisch mehr, weil sich die Streitkräfte das nicht mehr leisten können. Inzwischen ist der Geldmangel so groß, dass die Armee auf ihrer Internetseite tägliche Hubschrauber-rundflüge für Touristen anbietet: 15 Minuten für 150 Us-dollar, bar auf die Hand.
Nicht nur die Armee ist pleite. Der Libanon steckt in einer tiefen Krise, die das Leben für Millionen Normalbürger immer schwieriger macht. Vor zwei Jahren war das libanesische Wirtschaftsmodell zusammengebrochen, das auf hohen Dollar-zuflüssen von ausländischen Investoren basierte. Seitdem geht es steil bergab. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Landes lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Weltbank stuft den Kollaps im Libanon als eine der weltweit schlimmsten Wirtschaftskrisen seit dem 19. Jahrhundert ein.
Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Die politische Klasse, die seit Jahrzehnten die Macht im Land unter Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen aufteilt, ist gelähmt. Die verschiedenen Gruppen klammern sich an ihr traditionelles Patronage-system und verhindern auf diese Weise strukturelle Reformen und eine wirksame Bekämpfung der grassierenden Korruption. Fast ein Jahr nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut, die mehr als 200 Menschen tötete und Teile der Innenstadt zerstörte, ist die Katastrophe noch nicht aufgearbeitet.
Zwar trat die Regierung von Premier Hassan Diab nach der Explosion unter dem Druck von Protesten zurück und ist seitdem nur noch geschäftsführend im Amt. Doch Gespräche über die Bildung eines neuen Kabinetts kommen seit Monaten nicht vom Fleck. Der Internationale Währungsfonds hat Verhandlungen über ein neues Hilfspaket für den Libanon abgebrochen.
Unterdessen versinkt das Land immer tiefer in der Hoffnungslosigkeit. Krankenhäuser haben keinen Strom. Weil die staatlichen Devisenreserven dahinschmelzen, geraten wichtige Importe wie Medikamente in Gefahr. Übergangspremier Diab kürzte jetzt die Subventionen für Benzin – als Folge schossen die Preise um mehr als 30 Prozent in die Höhe. An den Tankstellen kam es zu Tumulten.
Demonstranten stürmten in den vergangenen Tagen mehrere Banken und Regierungsgebäude. Mitglieder der vom Iran unterstützten Hisbollah-miliz verschleppten vorübergehend die deutsche Reporterin Stella Männer und ihren britischen Kollegen Matt Kynaston. Aya Majzoub von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beschreibt die Lage im Land als „dystopischen Albtraum“.
Die Folgen könnten die ganze Region destabilisieren, befürchten Experten. Beim libanesischen Nachbarn Syrien tobt seit mehr als zehn Jahren ein Bürgerkrieg, der Millionen Flüchtlinge ins Ausland getrieben hat – der kleine Libanon mit seinen sechs Millionen Menschen hat bis zu 1,5 Millionen Syrer aufgenommen, von denen die meisten in bitterer Armut leben.
Ein Kollaps der staatlichen Ordnung im Libanon würde Konflikte zwischen ausländischen Mächten wie dem Iran und Israel, die seit Jahrzehnten im Libanon mitmischen, neu anfachen. Der Nahost-experte Alexander Langlois befürchtet eine „Kettenreaktion“. Wie in Syrien sei auch im Libanon ein Krieg verfeindeter Gruppen als Hilfstruppen konkurrierender ausländischer Schutzmächte möglich. In den libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 waren ausländische Akteure von Syrien bis zu den USA verwickelt. Viele Libanesen haben die Hoffnung aufgegeben. Nach Schätzungen der Beiruter Beraterfirma Information International verließen zwischen Ende 2018 und Ende 2019 knapp 67.000 Libanesen ihr Land. Erste Daten für 2020 und das laufende Jahr deuten auf eine Fortsetzung des Trends hin.
Als mächtigster Einzelakteur in der libanesischen Politik spielt die iranisch finanzierte Hisbollah eine Schlüsselrolle. Die schiitische Miliz ermöglicht es dem Iran, seinen Einfluss über den Irak und Syrien bis zum Mittelmeer auszudehnen. Umgekehrt verhindert die Machtposition der Hisbollah eine mögliche Finanzhilfe der reichen Golfstaaten für den Libanon: Die Golf-araber hielten ihr Geld wegen des Einflusses der Hisbollah zurück, schrieb Imad Harb von der Us-denkfabrik Arab Center in einer Analyse.
Westliche Staaten sollten nach Meinung des Nahost-experten Langlois über die Lieferung von Medikamenten und Nahrungsmitteln in den Libanon nachdenken. Eine solche Nothilfe werde die Probleme des Libanon zwar nicht lösen. Doch zumindest könne sie noch Schlimmeres verhindern.