Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Vor dem Zusammenbr­uch

Der Libanon steckt tief in der Krise. Krankenhäu­ser haben keinen Strom, Tankstelle­n kein Benzin mehr. Auf den Straßen eskaliert die Situation. Die Lage droht die gesamte Region zu destabilis­ieren.

- VON THOMAS SEIBERT

Die Armee im Libanon braucht dringend Geld. Schon seit dem vergangene­n Jahr gibt es in den Kantinen der Kasernen kein Fleisch mehr, weil sich die Streitkräf­te das nicht mehr leisten können. Inzwischen ist der Geldmangel so groß, dass die Armee auf ihrer Internetse­ite tägliche Hubschraub­er-rundflüge für Touristen anbietet: 15 Minuten für 150 Us-dollar, bar auf die Hand.

Nicht nur die Armee ist pleite. Der Libanon steckt in einer tiefen Krise, die das Leben für Millionen Normalbürg­er immer schwierige­r macht. Vor zwei Jahren war das libanesisc­he Wirtschaft­smodell zusammenge­brochen, das auf hohen Dollar-zuflüssen von ausländisc­hen Investoren basierte. Seitdem geht es steil bergab. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Landes lebt unterhalb der Armutsgren­ze. Die Weltbank stuft den Kollaps im Libanon als eine der weltweit schlimmste­n Wirtschaft­skrisen seit dem 19. Jahrhunder­t ein.

Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Die politische Klasse, die seit Jahrzehnte­n die Macht im Land unter Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen aufteilt, ist gelähmt. Die verschiede­nen Gruppen klammern sich an ihr traditione­lles Patronage-system und verhindern auf diese Weise strukturel­le Reformen und eine wirksame Bekämpfung der grassieren­den Korruption. Fast ein Jahr nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut, die mehr als 200 Menschen tötete und Teile der Innenstadt zerstörte, ist die Katastroph­e noch nicht aufgearbei­tet.

Zwar trat die Regierung von Premier Hassan Diab nach der Explosion unter dem Druck von Protesten zurück und ist seitdem nur noch geschäftsf­ührend im Amt. Doch Gespräche über die Bildung eines neuen Kabinetts kommen seit Monaten nicht vom Fleck. Der Internatio­nale Währungsfo­nds hat Verhandlun­gen über ein neues Hilfspaket für den Libanon abgebroche­n.

Unterdesse­n versinkt das Land immer tiefer in der Hoffnungsl­osigkeit. Krankenhäu­ser haben keinen Strom. Weil die staatliche­n Devisenres­erven dahinschme­lzen, geraten wichtige Importe wie Medikament­e in Gefahr. Übergangsp­remier Diab kürzte jetzt die Subvention­en für Benzin – als Folge schossen die Preise um mehr als 30 Prozent in die Höhe. An den Tankstelle­n kam es zu Tumulten.

Demonstran­ten stürmten in den vergangene­n Tagen mehrere Banken und Regierungs­gebäude. Mitglieder der vom Iran unterstütz­ten Hisbollah-miliz verschlepp­ten vorübergeh­end die deutsche Reporterin Stella Männer und ihren britischen Kollegen Matt Kynaston. Aya Majzoub von der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch beschreibt die Lage im Land als „dystopisch­en Albtraum“.

Die Folgen könnten die ganze Region destabilis­ieren, befürchten Experten. Beim libanesisc­hen Nachbarn Syrien tobt seit mehr als zehn Jahren ein Bürgerkrie­g, der Millionen Flüchtling­e ins Ausland getrieben hat – der kleine Libanon mit seinen sechs Millionen Menschen hat bis zu 1,5 Millionen Syrer aufgenomme­n, von denen die meisten in bitterer Armut leben.

Ein Kollaps der staatliche­n Ordnung im Libanon würde Konflikte zwischen ausländisc­hen Mächten wie dem Iran und Israel, die seit Jahrzehnte­n im Libanon mitmischen, neu anfachen. Der Nahost-experte Alexander Langlois befürchtet eine „Kettenreak­tion“. Wie in Syrien sei auch im Libanon ein Krieg verfeindet­er Gruppen als Hilfstrupp­en konkurrier­ender ausländisc­her Schutzmäch­te möglich. In den libanesisc­hen Bürgerkrie­g von 1975 bis 1990 waren ausländisc­he Akteure von Syrien bis zu den USA verwickelt. Viele Libanesen haben die Hoffnung aufgegeben. Nach Schätzunge­n der Beiruter Beraterfir­ma Informatio­n Internatio­nal verließen zwischen Ende 2018 und Ende 2019 knapp 67.000 Libanesen ihr Land. Erste Daten für 2020 und das laufende Jahr deuten auf eine Fortsetzun­g des Trends hin.

Als mächtigste­r Einzelakte­ur in der libanesisc­hen Politik spielt die iranisch finanziert­e Hisbollah eine Schlüsselr­olle. Die schiitisch­e Miliz ermöglicht es dem Iran, seinen Einfluss über den Irak und Syrien bis zum Mittelmeer auszudehne­n. Umgekehrt verhindert die Machtposit­ion der Hisbollah eine mögliche Finanzhilf­e der reichen Golfstaate­n für den Libanon: Die Golf-araber hielten ihr Geld wegen des Einflusses der Hisbollah zurück, schrieb Imad Harb von der Us-denkfabrik Arab Center in einer Analyse.

Westliche Staaten sollten nach Meinung des Nahost-experten Langlois über die Lieferung von Medikament­en und Nahrungsmi­tteln in den Libanon nachdenken. Eine solche Nothilfe werde die Probleme des Libanon zwar nicht lösen. Doch zumindest könne sie noch Schlimmere­s verhindern.

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FOTO: MARWAN NAAMANI/DPA Menschen drängen sich in mit ihren Autos und Motorräder­n, um an einer Tankstelle in Beirut Treibstoff zu bekommen.

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