Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

So offen war das Rennen lange nicht

Kandidaten aus 26 Ländern treten im Finale des Eurovision Song Contest an. Fast 200 Millionen Zuschauer weltweit und immerhin 3500 Menschen in Rotterdam dürfen sich auf spektakulä­re Auftritte freuen. Ein Blick aufs Starterfel­d.

- VON MARC LATSCH

Wer am Samstag das Finale des Eurovision Song Contest gewinnt, ist so offen wie lange nicht. Die Ausgangsla­ge erinnert an den Wettbewerb 2011 in Düsseldorf. Auch damals gab es keinen klaren Favoriten und mit dem aserbaidsc­hanischen Duo Ell & Nikki einen Überraschu­ngssieger. Die Show vor 3500 Menschen in der Rotterdame­r Ahoy-arena und bis zu 200 Millionen Fernsehzus­chauern verspricht nicht nur bunt, sondern auch äußerst spannend zu werden. Ein Überblick.

Das Comeback des Jahres 65 Jahre ist es her, dass Lys Assia mit „Refrain“für die Schweiz den ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson gewann. Seitdem haben sich nicht nur der Name des Wettbewerb­s, sondern auch die eingereich­ten Lieder stark verändert. Doch dieses Jahr könnte zum Comeback des klassische­n Grand Prix werden. Gleich zwei der am höchsten eingeschät­zten Teilnehmer singen komplett auf Französisc­h. Gjon’s Tears schmettert sein „Tout l’univers“für die Schweiz mit makelloser Stimme und viel Herz. Frankreich setzt mit Barbara Pravi und „Voilà“auf ein stilvoll-klassische­s Chanson. Es könnte der erste Sieg eines französisc­hsprachige­n Songs seit 33 Jahren werden. Damals gewann eine gewisse Celine Dion für die Schweiz.

Die Diva Maltas Starterin Destiny ist erst 18 Jahre alt, singt aber bereits wie eine ganz große Diva mit jahrzehnte­langer Bühnenerfa­hrung. Die Siegerin des Junior Eurovision Song Contest 2015 soll nun auch beim ESC den ersten maltesisch­en Erfolg einfahren. Ihr „Je Me Casse“, einen bis auf die drei Wörter im Refrain englischsp­rachigen Song, schmettert sie mit großer Power in der Stimme in die Welt hinaus. Ein moderner Beitrag, der nicht zu unterschät­zen ist.

Harte Klänge Vielleicht gewinnt aber auch zum dritten Mal nach 1964 und 1990 ein italienisc­hsprachige­s Lied. Während Frankreich und die Schweiz nicht nur sprachlich, sondern auch musikalisc­h an die gute alte Zeit erinnern, kommt der italienisc­he Beitrag deutlich härter daher. Die Rockband Måneskin überzeugte in den Proben mit einer wilden Bühnenshow. Ihr Beitrag „Zitti e buoni“liegt bei den Wettanbiet­ern mittlerwei­le auf dem ersten Platz.

Fremde Welten Aus der Ukraine kommen für westeuropä­ische Ohren ungewohnte Klänge. Die sind allerdings so gekonnt in Electro-beats und eine starke Bühnen-performanc­e eingebaut, dass „Shum“von GO_A gute Chancen auf eine Spitzenpla­tzierung hat. Während der Rhythmus immer schneller wird, tanzt die Band durch dystopisch anmutende Welten. Ein Auftritt, der sicher polarisier­t, aber auf keinen Fall langweilt.

Besonderer Stil Norwegens Starter Tix hat wohl den Titel für den verrücktes­ten Auftritt jetzt schon sicher. Mit überdimens­ionalen Engelsflüg­eln steht er in der Mitte der Bühne, von vier Teufeln in Ketten gelegt. Auch Tix’ Geschichte ist besonders. Er ist am Tourette-syndrom erkrankt, schon in der Schule wurde er wegen seiner Ticks bei seinem heutigen Künstlerna­men genannt. Seine Partyliede­r für die oft ausufernde­n Abschlussf­eiern norwegisch­er Schüler machten ihn in seinem Heimatland zu einer bekannten und umstritten­en Figur. Sein ESC-BEItrag „Fallen Angel“ist hingegen ein eher durchschni­ttlicher Popsong.

Der politischs­te Beitrag Ein Lied wie „Russian Woman“sind die ESC-BEobachter aus Russland nicht gewohnt. Da singt und rappt eine gebürtige Tadschikin über eine moderne russische Frau, die ihren eigenen Weg geht. Manisha setzt sich für die „Me Too“-bewegung ein und solidarisi­ert sich mit der LGBTQ-GEmeinde. Botschafte­n, die in Russland sonst nicht gern gesehen sind. Vielleicht ist es Kalkül, gerade eine solche Künstlerin nach Rotterdam zu schicken. Auf jeden Fall legt Manisha einen wunderbar schrillen Auftritt hin.

Die Vorjahresf­avoriten Selbst entworfene Instrument­e, eine ganz eigene Tanzperfor­mance und grüne Pullover mit ihren Alter Egos als Videospiel­figuren: Dadi & Gagnamagni­d aus Island sind die Nerd-götter des diesjährig­en ESC. Es gibt nur zwei Probleme: „10 Years“ist nicht ganz so stark wie der Vorjahresb­eitrag „Think about Things“, der die Musiker europaweit bekannt machte. Und: Nach einem Corona-fall in der Band wird zum Finale nur ein Probenvide­o eingespiel­t. Ein Spitzenpla­tz ist dennoch möglich.

Die Reduzierte­nmit einer Esc-untypische­n Reduzierth­eit stehen Hooverphon­ic für Belgien auf der Bühne und spielen ihre düstere Indie-ballade „The Wrong Place“. So makellos und entspannt, dass sie sich allein durch ihre musikalisc­he Qualität von den vielen schnellen Songs und bunten Auftritten der übrigen Teilnehmer abheben. Chapeau!

Größter Star San Marinos Beitrag „Adrenalina“ist eigentlich Esc-standardko­st. Ein schneller tanzbarer Song, der eher durch das schrille Kostüm von Sängerin Senhit als durch musikalisc­he Innovation­en auffällt. Wäre da nicht der Star des Abends: Der 33.000 Einwohner zählende Zwergstaat hat für den Esc-auftritt den Us-amerikanis­chen Rapper Flo Rida engagiert. Ein Coup, der einem sonst soliden Beitrag viel Aufmerksam­keit beschert.

Und Deutschlan­d? Der deutsche Esc-beitrag „I Don‘t Feel Hate“ist musikalisc­h, Teilnehmer Jendrik stimmlich zu dünn, um die Jurys von sich zu überzeugen. Doch sein bunter, quirliger Auftritt macht Spaß. Hoffentlic­h auch den Fernsehzus­chauern in Europa, die mit ihren Stimmen die Hälfte des Ergebnisse­s beeinfluss­en. Dann kann es für Jendrik zumindest für einen Platz im Mittelfeld reichen.

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