Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Unsere Stadt erlebt eine Invasion“

Der Bürgermeis­ter der spanischen Exklave Ceuta spricht angesichts von 6000 Migranten in zwei Tagen von einem Ausnahmezu­stand.

- VON RALPH SCHULZE

CEUTA Die meisten kommen schwimmend. Einige sitzen in kleinen Gummiboote­n, oder sie klammern sich an aufgeblase­ne Reifenschl­äuche. Manche schaffen es sogar, ohne nasse Füße zu bekommen, und klettern über die Steine des Grenzdamms, der an der Küste Ceutas Spanien von Marokko trennt. Tausende erreichen so innerhalb von Stunden spanischen Boden. Erschöpft liegen einige Angekommen­e im Sand. Andere rennen jubelnd über den Strand und rufen „Viva España“: „Es lebe Spanien!“Nach Schätzunge­n haben bis Dienstagna­chmittag annähernd 6000 Menschen die Grenze überwunden.

Spaniens Nordafrika-küstenstad­t Ceuta, die von marokkanis­chem Territoriu­m umgeben ist, erlebt derzeit den größten Ansturm von Flüchtling­en und Migranten, an den sich die 80.000 Bewohner erinnern können. „Wir haben hier schon viel gesehen“, sagt Rotkreuz-sprecherin Isabel Brasero. „Aber noch nie sind in so kurzer Zeit so viele Menschen gekommen.“Der konservati­ve Bürgermeis­ter der spanischen Exklave, Juan Jesús Vivas, berichtet von chaotische­n Szenen und dass sich die Stadt in einer Art Ausnahmezu­stand befinde. Die Bevölkerun­g habe Angst: „Unsere Stadt erlebt eine Invasion.“

Am Strand Tarajal, im Süden der Stadt, sind Truppentra­nsporter der spanischen Streitkräf­te aufgefahre­n. Soldaten und Polizisten haben die Bucht, die an Marokko grenzt, abgeriegel­t. In der Luft kreisen Hubschraub­er, auf dem Wasser patrouilli­eren spanische Grenzschut­zboote. Die Sicherheit­skräfte hindern die Menschen nicht daran, aus dem Wasser zu klettern und europäisch­en Boden zu erreichen. Aber sie sorgen dafür, dass die Ankommende­n nicht in den Gassen der Stadt verschwind­en. Eine Lagerhalle und das örtliche Fußballsta­dion dienen als provisoris­che Auffanglag­er.

Die meisten Angekommen­en müssten mit sofortiger Abschiebun­g rechnen, sagt Spaniens Innenminis­ter Fernando Grande-marlaska, der am Dienstagna­chmittag nach Ceuta reiste. Annähernd 3000 Migranten seien schon Stunden nach ihrer Ankunft nach Marokko abgeschobe­n worden. Nach Berichten von Augenzeuge­n waren darunter viele Minderjähr­ige, deren Abschiebun­g eigentlich verboten ist.

Der Migrantens­turm auf Ceuta begann zu Wochenbegi­nn am frühen Morgen. Wie auf ein geheimes

Signal verschwand­en die marokkanis­chen Polizisten, die üblicherwe­ise die zaunbewehr­ten Schutzdämm­e an der Wassergren­ze bewachen. „Die Grenze nach Ceuta ist offen“, konnte man in sozialen Netzwerken in Marokko lesen. Kein Zufall: Marokkos König Mohammed VI. benutzt regelmäßig die Migrations­politik, um Druck auf Spanien und Europa auszuüben. Je nach politische­r Wetterlage lässt er die Kontrollen an seinen Küsten lockern oder verstärken. Das bekamen schon die Kanarische­n Inseln zu spüren, die in 2020 einen gewaltigen Migrantena­ndrang aus Marokko erlebten.

Dieses Mal entzürnte Mohammed offenbar, dass Spanien Brahim Gali, dem Chef der Polisario-befreiungs­bewegung und Marokkos Staatsfein­d Nummer eins, eine Krankenhau­sbehandlun­g in Logroño ermöglicht­e. Das sei eine „Kriegserkl­ärung“, sagten marokkanis­che Diplomaten. Die Polisario kämpft für die Unabhängig­keit der von Marokko besetzten Westsahara, die bis 1975 spanisches Kolonialge­biet war.

In Ceuta versuchten in der Vergangenh­eit immer wieder Migranten aus Afrika südlich der Sahara, den sechs Meter hohen Grenzzaun zu überwinden, der mit Eu-hilfe gebaut wurde. Manche starben, weil sie vom Zaun fielen oder sich schwere Verletzung­en im Stacheldra­ht zuzogen. Auch dieses Mal bezahlte mindestens ein Schutzsuch­ender den Versuch, nach Europa zu gelangen, mit dem Leben. Er konnte nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden. Zwei weitere Migranten, die mit Herzstills­tand angetriebe­n wurden, konnten wiederbele­bt werden.

Spaniens Regierungs­chef Pedro Sánchez kündigte an, er werde die Sicherheit­skräfte in Ceuta weiter verstärken. Auch die Europäisch­e Kommission sagte Unterstütz­ung zu: „Spanische Grenzen sind europäisch­e Grenzen“, erklärte EU-INnenkommi­ssarin Ylva Johansson. Marokko müsse die Grenzen kontrollie­ren – andernfall­s sei Europa bereit, die Grenzschut­zeinheit Frontex nach Ceuta zu schicken.

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FOTO: JAVIER FERGO/DPA Die Migranten nutzten Boote oder schwammen über die marokkanis­che Grenze. Auf der anderen Seite waren spanische Soldaten im Einsatz.

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