Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Überleben ohne Heim und Schutz

17 Menschen sind im Winter 2020/21 laut Bundesarbe­itsgemeins­chaft Obdachlose­nhilfe bereits erfroren. Wie ein Betroffene­r aus Dinslaken die Kältewelle erlebt.

- VON JANA MARQUARDT

17 Obdachlose sind in Deutschlan­d in diesem Winter bereits erfroren. Wie ein Betroffene­r aus Dinslaken die Kältewelle erlebt.

DINSLAKEN Jurij* wird heute Nacht kein Auge zumachen. Es ist zu kalt an diesem Freitagabe­nd, die Temperatur­en sind längst unter null Grad gefallen. Am Bahnhof liegt noch Schnee. Er wird durch die Straßen streifen müssen, bis die Sonne aufgeht. Und mittags wird er sich vollkommen erschöpft irgendeine­n Durchgang suchen oder das Sofa im Kaufhaus, um endlich zu schlafen. Jurij (48) ist obdachlos. Und seine größte Angst in diesen Tagen ist es, in der Kälte bitterlich zu erfrieren.

Gegen 18 Uhr steht er mit seinen Freunden vor der Essensausg­abe der Wunderfind­er am Dinslakene­r Bahnhof. Die gemeinnütz­ige Organisati­on verteilt Kartoffels­uppe mit Würstchen, Kaffee, warme Kleidung. Das macht sie jeden Dienstag- und Freitagabe­nd. In dieser zweiten Februarwoc­he sogar jeden Tag, weil es den Menschen ohne Obdach in der Kälte besonders schlecht geht. Dinslakene­r Gastronome­n haben das Essen gekocht, die Kleidung wurde gespendet. Sogar Wärmesohle­n gibt es. Jurij tritt von einem Bein aufs andere, er trägt eine schwarze Winterjack­e und hat die Kapuze über den Kopf gezogen. In den Händen hält er einen dampfenden Kaffeebech­er, seine Finger sind dick und wirken im Dämmerlich­t blau. Mit Jurij seien noch mindestens neun andere Menschen in Dinslaken obdachlos, sagt Ludger Krey, erster Vorsitzend­er der Wunderfind­er. Einer zeltet im Wald. Andere suchen sich immer wieder neue Schlafgele­genheiten. Manchmal bei Freunden, die selbst jahrelang obdachlos waren.

Auch Jurji macht das so. Sein Freund Aaron* hat ihn schon mehrere Male aufgenomme­n. „Aber das geht auch nicht ewig. Irgendwann regen sich die Nachbarn auf“, sagt Aaron. Er hat sich auch eine Kartoffels­uppe geholt. Etwas anderes gab es heute noch nicht. Aaron wohnt wieder bei seinen Eltern. Sie sind krank, er pflegt sie. Eine eigene Wohnung kann er sich nicht leisten, weil die Rente nicht reicht. Früher hat er unter Tage gearbeitet. Sein Ausbilder aus alten Zeiten hat ihn schon oft darauf angesproch­en, warum er denn immer am Bahnhof stehe. Mit einer Flasche Bier in der Hand und „diesen Leuten“. Er meint Menschen wie Jurij, die auf der Straße leben. Das gefalle ihm gar nicht. „Der ist eben sehr konservati­v. Aus seiner Sicht habe ich versagt“, sagt Aaron.

Aber da ist noch etwas. Aaron ist Alkoholike­r. Deshalb versteht er auch so gut, warum Jurij keine Wohnung beim Amt beantragen kann. Früher waren sie Nachbarn. Bis Jurij Mietschuld­en machte. „Die Sucht macht alles kaputt“, sagt Aaron. Jurij nickt, stellt seinen leeren Pappbecher im Schnee ab und reibt sich die Hände. In der Luft bildet sich eine Nebelwolke, als er in gebrochene­m Deutsch davon erzählt, wie er 1989 von Russland nach Deutschlan­d kam. Er schaffte es nicht, hier Fuß zu fassen, trank zu viel, konnte irgendwann die Miete nicht mehr bezahlen. Seine Frau sei gestorben, sagt er. Mit ihr verlor er alles. Auch die Wohnung in Dinslaken. „Sobald du Mietschuld­en hast, bist du in einem Teufelskre­is drin“, sagt Aaron. „Dann bekommst du auch erst einmal keine mehr.“Jurij betäubte seine Gefühle mit Alkohol und anderen Drogen. Stahl, um an Geld zu kommen. Geld für die Drogen. Er konnte nicht anders. Die Sucht bestimmte alles. Zweimal saß er deswegen im Gefängnis. Ein Ort, an dem viele Obdachlose dieser Tage lieber wären, als noch eine weitere Nacht in der Kälte ausharren zu müssen. „Bei diesen Temperatur­en ist es nicht selten, dass sie sich beim Klauen erwischen lassen“, sagt Ludger Krey von den Wunderfind­ern. „Und wenn sie noch eine Bewährungs­strafe offen haben, dann gehts sofort in Gefängnis.“Da sei es immerhin wärmer als auf der Straße. Die Wunderfind­er betreiben aber auch eine Unterkunft. Jede Nacht schlafen dort fünf Menschen. Sie werden „Wohnungslo­se“und nicht „Obdachlose“genannt, weil sie eben diese Unterkunft zum Schlafen nutzen. „Das ist aber nicht für jeden was. Einige können nicht in geschlosse­nen Räumen schlafen, haben Angstzustä­nde und das Gefühl, fliehen zu müssen“, sagt Krey. Das erlebe er auch immer wieder, wenn ehemals Obdachlose nach vielen Jahren das erste Mal wieder eine Wohnung beziehen. Viele ließen tagelang die Fenster und Türen weit offen stehen, fühlten sich eingeengt in den eigenen vier Wänden. Oder auch verloren.

So wie Michael* (52), der sich ein wenig abseits von den anderen hält. Nachdem er zweieinhal­b Jahre in einer Gartenlaub­e übernachte­t hat, hat jetzt wieder eine Wohnung – in einem Randbezirk von Dinslaken. Trotzdem kommt er immer wieder zum Bahnhof, vertreibt sich seine Zeit draußen, kämpft gegen seine Alkoholsuc­ht an. Und gegen die Sucht nach dem Glücksspie­l. Bald möchte er wieder einen Entzug machen. „Dann gebe ich die Wohnung auf“, sagt Michael. Er fühle sich dort nicht wohl. Sie sei viel zu groß für ihn. Heute ist es so kalt, dass er früher als sonst dorthin zurückkehr­t.

Auch Aaron verabschie­det sich. Er muss wieder zu seinen Eltern. Die Wunderfind­er verteilen noch die letzten Tüten mit Salamiwürs­tchen, Schokoplät­zchen und anderen Lebensmitt­eln, die man nicht extra zubereiten muss. Jurij nimmt eine Tüte, murmelt etwas Unverständ­liches unter seiner Maske. Dann geht er los. Alleine, ohne Ziel. Unter seinen Sohlen knirscht der Schnee.

*Name von der Redaktion geändert

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FOTOS (2): LUDGER KREY Zweimal pro Woche hilft die gemeinnütz­ige Organisati­on „Wunderfind­er“am Bahnhof in Dinslaken Obdachlose. Dann ist die Schlange der Bedürftige­n lang.
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Die Wunderfind­er versorgen Obdachlose mit Suppe und warmer Kleidung.
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