Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Wir wollen von vorne führen“
INTERVIEW ROBERT HABECK Der Grünen-chef über Impfstoffe, höhere Steuern – und warum es ihm „wurscht“ist, wer Kanzlerkandidat der Union wird.
Herr Habeck, wenn im kommenden Herbst oder Winter eine dritte Infektionswelle kommt, sitzen die Grünen womöglich mit in der Bundesregierung. Was läuft dann im Kampf gegen Corona anders? HABECK Wir haben es ja noch in der Hand, eine solche dritte Infektionswelle zu vermeiden. Die Infektionszahlen müssen weiter runter. Schnelltests sollten für die Selbstanwendung ermöglicht werden. Und fürs Impfen braucht es eine konzertierte Aktion. Die Bundesregierung sollte die Pharmaunternehmen an einen Tisch holen, um mögliche Kooperationen auszuloten. Das ist wahrscheinlich nicht eben mal in zwei Stunden Impfgipfel getan. Da muss sich die Bundesregierung systematisch und kontinuierlich dahinterklemmen. Jetzt ist Industriepolitik gefragt. Sollten die Pharmaunternehmen dann trotz Möglichkeiten nicht kooperieren wollen, kann die Regierung als Ultima Ratio verpflichtende Lizenzvergaben in Betracht ziehen. Am Ende muss eben mehr Impfstoff rauskommen.
Wer hat das Impfchaos zu verantworten?
HABECK Die Verantwortung für die Verträge hat die Eu-kommission. Aber Deutschland hatte in diesen Monaten die Eu-ratspräsidentschaft inne. Deswegen zeigen alle Finger, mit denen man auf andere zeigt, auch wieder auf einen selbst zurück.
Was kann man jetzt international machen, um an mehr Impfstoff zu kommen, etwa mit den USA? HABECK Mit der Regierung des neuen Us-präsidenten Joe Biden ist der Moment für eine vertiefte transatlantische Kooperation gekommen. Europa und die USA sollten jetzt gemeinsam eine Initiative starten und auf G20-ebene die Kapazitäten der Pharmaindustrie weltweit zusammenbringen. Pfizer ist ein Us-amerikanisches Unternehmen. Joe Biden ist ein Transatlantiker, jemand, der in globalen Zusammenhängen denkt. Er führt sein Land in das Weltklimaschutzabkommen und die Weltgesundheitsorganisation zurück. Mit der Biden-administration kann eine Erhöhung der Impfstoffproduktion gelingen. Aus solch einem Erfolg kann auch Energie für andere Politikfelder entstehen, Klimaschutz etwa oder auch gemeinsame Initiativen für Abrüstung.
Braucht es eine Vermögensabgabe für die Corona-kosten?
HABECK Die Staaten nehmen zu Recht viel Geld in die Hand, um die Krise zu stemmen. Das ist teuer, ja. Aber für die Kredite zahlt der Staat aktuell und auf absehbare Zeit Nullzinsen. Wenn dieses Geld gut eingesetzt wird, werden die Kredite dafür sorgen, dass die Wirtschaft überlebt und die Konjunktur wieder anspringt. Deswegen braucht es zur Tilgung der Kredite keine Vermögensabgabe.
Sondern?
HABECK Erstens sollten wir den Tilgungszeitraum deutlich strecken. Zweitens ist die Reform der Schuldenbremse angezeigt. Wenn wir sie um eine Investitionsregel ergänzen, kann der Staat investieren und wirtschaftliche Tätigkeit und Wachstum schaffen.
Die Schuldenbremse wurde aus guten Gründen eingeführt. Warum ist sie überholt?
HABECK Eine Schuldenbremse ist grundsätzlich richtig, weil sie den Staat zur Ausgabendisziplin zwingt. In ihrer derzeitigen Form lässt sie aber für die dringend notwendigen Investitionen in Klimaschutz, Bildung und Digitalisierung keinen Spielraum. Das war schon vor Corona ein Problem, jetzt erst recht. Wir haben einen Investitionsrückstand in den Kommunen von 147 Milliarden Euro. Und wenn wir in einer Wirtschaftskrise anfingen zu sparen, verschärft sich die Krise. Das dürfen wir nicht zulassen. Der ausgeglichene Haushalt ist ja kein Selbstzweck. Politik muss handlungsfähig sein – und dann auch handeln.
Warum hält die Union dann an der Schuldenbremse fest?
HABECK Wenn man an einer Überzeugung klammert, die von der Wirklichkeit überholt ist, ist das Ideologie. Das Kanzleramt konzentriert sich auf die Probleme in der Wirklichkeit und hat erkannt, dass eine Rückkehr zur rigiden Schuldenbremse angesichts der Haushaltslücken nur mit einem extrem schmerzhaften Sparkurs möglich ist. Frau Merkel hat sich von der Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten von CDU und CSU offenbar teilweise frei gemacht. Das gilt für die Pandemiebekämpfung, das galt in Teilen auch in der Flüchtlingspolitik, und das gilt bei der Frage: Wie kommen wir aus der Krise raus? Eine sehr interessante Entwicklung.
Ist es für Ihre Aufstellung im Wahl
kampf egal, ob Armin Laschet oder Markus Söder Kanzlerkandidat der Unionsparteien wird?
HABECK Ja, das ist wurscht. Wir konzentrieren uns auf die Lösung der Probleme und nicht auf Kandidaten anderer Parteien. Wir wollen ja von vorne führen.
Was hat Frau Baerbock und Sie bewogen, die Entscheidung, wer die Grünen in diese Wahlauseinandersetzung führen wird, auf die Zeit nach Ostern zu verlegen?
HABECK Im Moment ist nicht die Zeit für Wahlkampf. Die Pandemie beschäftigt die Menschen verständlicherweise sehr. Wir wollen für unseren Bundesparteitag im Juni, bei dem wir unser Wahlprogramm verabschieden, auch einen Personalvorschlag vorlegen. Wir werden den Teamgedanken dabei weiter fortführen, egal, wer von uns beiden dann den halben Schritt nach vorne macht.
Sie haben selbst gesagt, die Grünen seien im Wahlkampf ihres Lebens. Was heißt das, wenn die Operation Kanzleramt scheitert?
HABECK Das heißt dann hoffentlich, dass wir mit einem sehr starken Wahlergebnis zweitstärkste politische Kraft sind und den Anspruch auf Regierungsbeteiligung einlösen können.
Keine Gefahr der Selbstüberschätzung?
HABECK Die gibt es immer. Genauso wie die der Selbstunterschätzung. Aber wir überprüfen uns permanent: Wo sind wir zu vorlaut? Wo sind wir zu leise? Annalena Baerbock und ich haben ein sehr selbstkritisches Umfeld um uns herum. Lauter Leute, die uns erden. So soll es sein. So kann es gut werden.