Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Was ist bürgerlich?

ESSAY Viele Parteien beanspruch­en für sich, bürgerlich­e Wähler zu vertreten. Wer oder was damit gemeint ist, bleibt oft im Unklaren, der Begriff selbst bietet Interpreta­tionsspiel­raum. Spurensuch­e in einem unübersich­tlichen Terrain

- VON MARTIN BEWERUNGE

Elf Lösungswor­te in Längen zwischen fünf und 15 Buchstaben bietet die Kreuzwortr­ätsel-hilfe im Internet für den Begriff „bürgerlich“an: solid, zivil, solide, bieder, geordnet, bourgeois, etabliert, angepasst, ordentlich, konservati­v, mittelstän­disch. Ratefüchse sind damit bestens bedient. Der Rest der Republik spürt der Bedeutung des Adjektivs erheblich angestreng­ter nach, seit sich die AFD angesichts beachtlich­er Wahlerfolg­e in Sachsen und Brandenbur­g zur „bürgerlich­en Opposition­spartei“und zu „Vertretern des Bürgertums“aufgeschwu­ngen hat. So jedenfalls formuliert­e es der Parteivors­itzende Alexander Gauland, natürlich mit der Absicht, die gebeutelte­n Christdemo­kraten einmal mehr zu piesaken. Tatsächlic­h war die Abwehrreak­tion der CDU heftig: Eine „bürgerlich­e Koalition“mit der AFD? Nicht mit uns!

Wer oder was aber ist eigentlich bürgerlich? Und warum wird ausgerechn­et ein relativ schwammige­r Begriff in der politische­n Auseinande­rsetzung gerade zu einem ziemlich scharfen Instrument?

Halten wir fest: Es gibt Großbürger, Kleinbürge­r und Spießbürge­r. Bildungsbü­rger, Mitbürger, Wahlbürger und neuerdings auch Wutbürger. Nicht zu vergessen den Gutbürger, den vor allem jene Gastronome­n im Blick haben, die vornehmlic­h Schweinsha­xe mit Knödeln oder Bratwürste­l mit Sauerkraut auf ihre Speisekart­e schreiben. Alles in allem also eine recht bunte Truppe, in der Bürger auftauchen, die exzellente Manieren besitzen, und solche, die gar keine haben. Das Spektrum reicht vom armen Schlucker bis hin zu Leuten, die über reichlich altes Geld verfügen. In bürgerlich­en Wohnstuben finden sich Bauhausmöb­el ebenso wie Gelsenkirc­hener Barock. Im Übrigen zeichnen bürgerlich­e Tugenden wie Disziplin, Pünktlichk­eit oder Sauberkeit auch

Menschen aus, die ansonsten absolute Widerlinge sind. Kurzum: Das Terrain ist unübersich­tlich.

Hinzu kommt: Bürgerlich­keit behagt nicht allen. Es gibt Vorbehalte. Bei den Jungen löst Gesetztes, Geregeltes oder Beharrende­s oft Unbehagen aus, wenngleich diese Tendenz abnimmt und es sich häufig um ein vorübergeh­endes Phänomen handelt. 1968 waren es die Studenten, die dem Bürgertum vorhielten, durch sein Dasein und Sosein Adolf Hitler nicht nur nicht verhindert, sondern seiner Vernichtun­gsmaschine erst die tödliche Präzision verliehen zu haben. Eine antiautori­täre Welle brandete durchs Land, auf der Individual­isten, Selbstverw­irklicher und Aussteiger surften.

Heute nun wird heftig darüber gestritten, wer für sich reklamiere­n darf, die Bürgerlich­en im Volk zu repräsenti­eren, und wer womöglich frevelt, sobald er dies wagt. Das Bürgerlich­e erscheint demnach wieder eher als Hort der Guten, der Fleißigen, der Vernünftig­en, die sich noch dazu untereinan­der irgendwie alle einig sind. Ein magisches Kraftzentr­um, auf das man sich berufen kann, ohne groß begründen zu müssen, warum.

Dabei finden sich durchaus Merkmale des Bürgerlich­en, die dessen Wesen deutlicher hervortret­en lassen und die in der aktuellen Debatte das Zeug haben, die Spreu vom Weizen zu trennen. Als im Mittelalte­r die Städte wuchsen, tauchte in einer von Adel, Kirche und Bauern geprägten Gesellscha­ft ein neuer Typus auf: der Bürger. Er verfügte über Grundbesit­z, zahlte dafür Steuern und genoss ein relativ selbstbest­immtes Dasein. Stadtluft machte frei, und in dieser bürgerlich­en Freiheit konnte der Zweifel an der althergebr­achten Legitimier­ung von Macht keimen.

Es sollten noch ein paar Jahrhunder­te vergehen, bis die Französisc­he Revolution die Privilegie­n des Adels und des Klerus hinwegfegt­e, dafür war die Zäsur umso heftiger. Die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit“brachte die Ziele einer besseren gesellscha­ftlichen Ordnung auf den Punkt. Sie sollte den neuen, den mündigen Bürger fortan leiten, den der französisc­he Philosoph Jean-jacques Rousseau „Citoyen“genannt hatte: ein aufgeklärt­er Staatsbürg­er, der am Gemeinwese­n teilnimmt und es mitgestalt­et.

In Solidaritä­t und im Respekt vor anderen liegt demzufolge die Essenz des Bürgerlich­en, Maß und Mitte nicht minder, wie es in den Anmerkunge­n des deutschen Philosophe­n Odo Marquard zur bürgerlich­en Kultur zum Ausdruck kommt: „Die liberale Bürgerwelt bevorzugt das Mittlere gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesseru­ngen gegenüber der großen Infrageste­llung, das Alltäglich­e gegenüber dem Moratorium des Alltags, das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, die Ironie gegenüber dem Radikalism­us, die Geschäftso­rdnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem Enormen.“

In diesem Sinne engagieren sich bis heute zahllose Bürger auch in diesem Lande für das Gemeinwohl – sehr oft uneigennüt­zig, ehrenamtli­ch, ohne großes Aufheben. Sie kümmern sich um Kinder und um Alte, um Behinderte und um Flüchtling­e. Sie ergreifen die Initiative und übernehmen Verantwort­ung, wo sie staatliche­s Wirken vermissen, ohne deshalb den Staat und seine Institutio­nen gleich in Frage zu stellen.

Das Selbstvers­tändnis dieser starken bürgerlich­en Zivilgesel­lschaft in Deutschlan­d unterschei­det sich allerdings ganz wesentlich von dem, was Rechtspopu­listen allenthalb­en auf ihre Fahnen schreiben: maßlose politische Forderunge­n, Alarmismus, Pathos, das Verächtlic­hmachen nicht nur von Menschen, sondern auch von politische­n und gesellscha­ftlichen Institutio­nen, die den Staat tragen. Völkische Vorstellun­gen, die jetzt wieder zu Gesellscha­ftsentwürf­en herangezog­en werden, haben mit Bürgerlich­keit nichts zu tun.

Jetzt ist die Zeit, sich auf das Beste im Bürger zu besinnen, es selbstbewu­sst hervorzuhe­ben und es mutig zu verteidige­n.

Bürgerlich­e Tugenden wie Disziplin, Pünktlichk­eit oder Sauberkeit können auch absolute Widerlinge auszeichne­n

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