„Long Covid ist kein Hirngespinst“
Long-Covid-Patientin Bettina Görtz wünscht sich mehr Hilfe. Für eine effektivere Behandlung sieht Professor Huan Nguyen vom ElisabethKrankenhaus die Notwendigkeit neuer Therapiestrukturen.
RHEYDT Vor zweieinhalb Jahren erkrankte Bettina Görtz an Corona. Bis heute leidet sie an Spätfolgen, die sich zum Beispiel in Herzrasen, Luftnot und „einer alles lähmenden Müdigkeit“äußern. Der Schweregrad der in Schüben kommenden Symptome ändere sich, so die Long-Covid-Patientin. Oft fühlt sie sich auf der Suche nach Hilfe allein gelassen, hat aber zugleich Verständnis für Ärzte im Umgang mit der komplexen Krankheit.
Für Betroffene bestünde die Gefahr, ins soziale Abseits abzurutschen. „Viele verlieren ihren Job, Kontakte, da häufig Verständnis fehlt. Da ist oft keiner, der zuhört und einen ernst nimmt“, sagt Görtz. Sie hat mehrere Selbsthilfegruppen gegründet. Hinter dem offensichtlichen Bedarf vermutet sie eine hohe Dunkelziffer von Betroffenen, denen die Kraft fehle, aktiv zu werden.
„Long Covid ist kein Hirngespinst”, sagt Huan Nguyen. Der Chefarzt der Abteilung Innere Medizin am Elisabeth Krankenhaus ist verantwortlich für medizinische Fragen und die Steuerung der Betreuung von Covid-19-Patienten. Er beschreibt Covid 19 als Multisysteminfektion. Das bedeute, dass viele Organe betroffen und daher die Symptome vielfältig seien.
Insgesamt ließen sich anhand der Organsysteme drei große Gruppen identifizieren: das Nervensystem mit Symptomen wie Störungen von Geruchs- und Geschmackssinn, Konzentrationsschwierigkeiten und chronische Müdigkeit, das Herzkreislaufsystem mit Anzeichen von Luftnot und verminderter körperlicher Belastbarkeit und schließlich das Bewegungssystem mit Anzeichen von Muskel-, Gelenk- und Wirbelsäulenschmerzen.
Bestünden die Beschwerden noch sechs Monate nach überstandener Covid-Infektion, könne von LongCovid gesprochen werden. Dauerten sie länger als zwei Jahre an, sei die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Erholung sehr gering. „Die Krankheit bleibt wahrscheinlich wie andere chronische Erkrankungen – Diabetes, Bluthochdruck, Vorhofflimmern und Rheuma zum Beispiel. Ist sie erst einmal chronisch, müssen Arzt und Patient den besten Weg für die Behandlung suchen“, sagt Nguyen.
Da eine gezielte medikamentöse Therapie nicht möglich sei, müssten Symptome gelindert werden. „Im Mittelpunkt stehen die ausführliche Beratung zum präventiven Selbstmanagement, eine symptomorientierte Therapie und eine verständnisvolle, psychosoziale Unterstützung“,
sagt Nguyen. Er betont, dass bei Long Covid das vorherrschende Problem des Patienten erkannt werden müsse, um als Aspekt behandelt zu werden.
Das Leitsymptom könne sich jedoch von Woche zu Woche ändern. Daher seien für optimale Therapieentscheidungen eine engmaschige Beobachtung des Patienten, Fingerspitzengefühl und Erfahrung notwendig. „Es gibt für diese Krankheit bisher keine eindeutigen Handlungsanweisungen, kein Kochbuch. Doch daran wird gearbeitet. Grundlagenforscher und Praktiker vor Ort müssen zusammenarbeiten“, hebt Nguyen hervor. Er weiß, dass die komplexe Behandlung kaum in klassischen Hausarztpraxen zu leisten ist, ohne andere Patiententermine zu verschieben oder abzusagen.
Doch bisher gebe es in der Stadt keinen Arzt, der sich nur um LongCovid-Patienten kümmert. So schreibt Nguyen dem betreuenden Hausarzt in der medikamentösen Symptomlinderung eine zentrale Rolle zu. Bei Luftnot könnte ein Bronchialspray eingesetzt werden, bei Herzunruhe Beta-Blocker und bei depressiver Neigung Antidepressiva. Der Facharzt vom „Eli“sollte andere Erkrankungen ausschließen und eventuelle Infektionsschäden
an Organsystemen nachweisen. Am Patienten sei es, eigene Belastungsgrenzen sowie das Verhältnis von Ruhephasen und akuten Schüben zu erkennen.
Nguyen empfiehlt die Impfung als die bisher einzige Möglichkeit, sich auch vor Long Covid zu schützen. „Ich kann nur jedem ans Herz legen, sich mindestens zweimal impfen zu lassen. Eine Risikozertifizierung ist wichtig, um zu sehen, wer mehr braucht“, sagt er. Er ist optimistisch, dass die Wissenschaft Wege finden wird, Ursachen genau zu erforschen und Medikamente zu entwickeln. Er verweist auf bisherige Erfolge: Impfstoffe, Akut-Behandlung und eine gesunkene Sterblichkeitsrate. Nun müssten dringend die Langzeitfolgen gesenkt werden. In der Zwischenzeit sei es für Betroffene wichtig, in Selbsthilfegruppen Austausch und Verständnis zu finden.
Der Chefarzt betont die dringende Notwendigkeit neuer Strukturen und weiterer finanzieller Mitteln: Flächendeckend sollten vor Ort spezielle Sprechstunden eingerichtet werden. Kostenträger müssten erkennen, dass Long Covid eine chronische Krankheit mit aktuell nicht abzuschätzenden Auswirkungen ist. Wer Kontakt zur Selbsthilfegruppe wünscht, wendet sich an: Bettina.Goertz1961@gmail.de