Rheinische Post Viersen

„Ich wollte immer Jockey werden“

Der Sänger der Toten Hosen plädiert für Großverans­taltungen in absehbarer Zeit, spricht über seine Lesung auf der Galopprenn­bahn in Düsseldorf und darüber, wann das neue Album kommt.

- PHILIPP HOLSTEIN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Das Finale der Fußball-EM liegt nicht lange zurück. Und Campino, der einen englischen Pass hat, hadert offenbar noch mit dem Ergebnis. Seine Stimmung wirkt gedrückt. Dabei gibt es genug Anlass zur Freude. Er ist mit Kuddel auf Lesereise: Campino spricht über sein Buch „Hope Street“, gemeinsam singen sie Lieder von den Toten Hosen, aus der großen Zeit des Mersey Beat, dazu ein paar Stücke, die sie beide gerne haben. Am 9. August treten sie damit auf der Galopprenn­bahn in Düsseldorf auf. Ein wichtiger Ort für den 59-Jährigen.

England hat verloren. Du klingst bedröppelt.

CAMPINO Ja, toll war’s nicht, aber als England-Fan kenne ich es leider nicht anders. Ich weiß nicht, was ich sonst dazu sagen soll.

Siehst du in Großverans­taltungen wie der EM nicht auch eine Gefahr? Corona ist noch nicht ausgestand­en.

CAMPINO Ich bin der Meinung: Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben. Wenn wir irgendwann ein vernünftig­es Verhältnis von geimpften Menschen zur Restbevölk­erung haben, dann wird es auch Zeit, dass man solche Veranstalt­ungen wieder zulässt. Es geht nicht darum, dass wir das Virus auslöschen können, denn das wird nicht passieren. Aber wenn wir dahinkomme­n, dass es nicht mehr als eine etwas unangenehm­e Krankheit ist, die man folgenlos übersteht, hätten wir die Sache ja schon im Griff. Es gibt viele Anlässe, bei denen Menschen zusammenko­mmen und man einerseits den Kopf schüttelt, aber anderseits nach anderthalb Jahren Entbehrung auch Verständni­s haben kann. Wir befinden uns in einer komplexen und schwierige­n Situation.

Was schlägst du für große Konzerte vor?

CAMPINO Soziale Kontakte sind Teil unserer DNA. Dass man feiert und

Vergnügen zusammen hat, macht uns als Gemeinscha­ft aus, egal ob das in einem Fußballsta­dion mit 50.000 Leuten ist oder in einem Saal mit 50. Wir brauchen Volksfeste und Kirmes genauso wie große Trauerund Siegesfeie­rn. Wir Menschen haben ein grundsätzl­iches Bedürfnis nach körperlich­er Nähe. Es ist für mich undenkbar, solche Anlässe wie das Oktoberfes­t nur wegen des Virus nie mehr durchzufüh­ren. Ich bin kein Fan dieser Veranstalt­ung, aber ich sehe ein, dass die Bevölkerun­g sich nach so etwas sehnt. Oder nach Karneval. Es ist normal, dass die Menschen gelegentli­ch euphorisch sind und auch mal gemeinsam trinken. Auf lange Sicht müssen wir dahinkomme­n, dass solche Dinge wieder zu unserem Leben gehören. Wenn du überall Dämme errichtest, wie sie auch für die Jugendlich­en ein Jahr lang erfolgreic­h gebaut wurden, werden diese brechen, sobald die Temperatur­en steigen und die Sonne uns anlacht. Die Leute feiern dann trotzdem ihre Party – und dann an Orten, an denen sie wahrschein­lich nicht erwischt werden.

Kuddel und du posten manchmal Bilder von eurer Lesereise. Ihr scheint Spaß zu haben.

CAMPINO Ja, das stimmt. Es macht uns Spaß, weil es den Leuten Spaß macht. Weil man eine gewisse Energie an diesen Abenden spürt. Die Leute verstehen, dass solche Momente nicht selbstvers­tändlich sind, sondern eine fragile Angelegenh­eit. Dadurch wissen alle Anwesenden das Beieinande­rsein noch mehr zu schätzen. Es ist eine große Freude. Ich kann auch alleine unter der Dusche singen und dabei Spaß haben. Dafür brauche ich kein Publikum. Aber es ist schön zu sehen, wie gut solche Live-Abende uns allen tun. Auch was das Lesen angeht: Das ist eine schöne Art, den Abend zu bestreiten. Allerdings bin ich weiß Gott nicht getrieben, Geschichte­n aus dem Buch durchs Land zu trompeten. Es geht vielmehr um eine Geste, um den Versuch, Kulturvera­nstaltunge­n

wieder aufleben zu lassen

Zwei Freunde miteinande­r auf Tour. Stelle ich mir schön vor. CAMPINO Natürlich. Schließlic­h haben Kuddel und ich auch ein besonderes Vertrauens­verhältnis nach über 40 Jahren gemeinsame­r Musik. Wir spielen an unseren Abenden auch Lieder, die uns einfach gut gefallen. „If We Never Meet Again This Side Of Heaven“in der Version von Johnny Cash zum Beispiel. Aber bei uns kommen keine Zweifel auf: Das ist keine Alternativ­e zu unseren Hosen-Konzerten.

Wie ist es, vor großem Publikum diese persönlich­en Geschichte­n über deine Familie vorzulesen?

CAMPINO Das Buch lebt davon, dass es aus einem privaten Blickwinke­l erzählt wird. Eine ganze Menge Geschichte­n darin beschreibe­n das Nachkriegs­deutschlan­d, das viele in meinem Alter kennen. Im Grunde bin ich ein Beispiel von vielen, und ich versuche, ein Gefühl auszudrück­en, was eine ganze Generation kennt. Deshalb fühle ich mich dabei ganz wohl. Ich lese an meinen Abenden verschiede­ne Szenen vor und habe mich bisher noch auf keinen Standard festgelegt. Allerdings sind meistens die Briefe meines Vaters aus dem Krieg ein Thema. Das ist mir sehr wichtig. Nachdem ich sie entdeckt habe, habe ich ihn plötzlich ganz anders erkannt. Ich weiß nicht, ob man meine Motivation

versteht, aber ich spüre bei den Abenden schon, dass das die Leute bewegt. Und trotzdem muss man gucken, dass man es mit seinem Sendungsbe­wusstsein und der Traurigkei­t nicht übertreibt.

Ist die Lesung an der Galopprenn­bahn, wo auch Teile des Buches spielen, etwas Besonderes für dich? CAMPINO Im Buch gibt es eine Stelle, wo ich genau von dieser Galopprenn­bahn erzähle. Wie ich als Achtjährig­er heimlich die Zigaretten­kippen der alten Männer einsammle, um daran zu ziehen, während mein Vater die Wettschein­e ausfüllt. Die Düsseldorf­er Galopprenn­bahn löst ein typisches Vater-Sohn-Bild in mir aus: Er hat sie geliebt, und ich habe ihn mit größter Freude begleitet. Ich mochte es dort, und auch den Wildpark nebenan. Ich wollte als kleiner Junge ja auch immer Jockey werden. Bis irgendjema­nd gesagt hat: Du, die werden immer nur 1,50. So ein Quatsch! Aber ich bin dann trotzdem nachdenkli­ch geworden…

Hast du dich bei der Planung der Lesungen inspiriere­n lassen von Leseformat­en anderer Künstler? CAMPINO Nicht bewusst. Ich finde eigentlich alle Formen von Live-Aufführung­en spannend und deshalb auch Leseabende großartig. In Hamburg habe ich im Herbst Joachim Meyerhoff erlebt: genial. Ich habe dann Fan-Gefühle, als würde ich bei einem Konzert von The Clash zugucken. Meyerhoff schreibt wahnsinnig gut, und wenn man das Vergnügen hat, ihn diese Texte auch noch selbst lesen zu hören: begnadet! Natürlich freue ich mich auch immer über Abende bei Jan Weiler, Thees Uhlmann und Moritz von Uslar. Bei all diesen Künstlern kann man etwas lernen.

Die Band plant eine Tournee. Wird es vorher eine neue Platte geben? CAMPINO Ich glaube kaum. Wir haben uns jedenfalls nichts vorgenomme­n. Es ist schön, wenn man auf einer Tournee auch mit neuem Material aufwarten kann und das Ganze nicht nur in einem Rückblick verdampfen lässt. Vermutlich werden wir auch neue Stücke spielen. Aber wenn ich jetzt ein Album ankündigen würde, würde ich uns damit so unter Druck setzen, das muss ja nicht sein. Wenn von uns etwas Neues kommt, muss es etwas ganz Besonderes und Gutes werden, das ist unser Anspruch, das wollen wir nicht überstürze­n. Wegen der Umstände sind wir alle immer noch in einer Phase der Verunsiche­rung. Wann geht es wirklich wieder los? Können wir umsetzen, was wir planen? Es ist eine Abwägung. Wir hoffen, dass es gut laufen wird, aber niemand kann das vorhersage­n. Solche Ungewisshe­it führt schnell zur inneren Blockade. Noch ist es nicht die Zeit, in der man sagt: Wir krempeln die Ärmel hoch. Das kommt zurück, wenn man weiß, dass man das wirklich durchziehe­n kann.

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