Feministin sein trotz Internets
DÜSSELDORF Manchmal wünscht man sich eine Freundin, die einem alles erklärt, die Gegenwart zum Beispiel. Aber nicht in so einem blöden Durchblicker- und Checker-Tonfall, sondern erst mal tastend und suchend, im Urteil dann jedoch smart und strikt. Eine Freundin, der man gerne beim Denken zuhört, weil sie denkt wie man selbst und weil sie darüber hinausdenkt und weiterdenkt und einen selbst entscheiden lässt, ob man ihr folgen mag. Eine Freundin, die einen teilhaben lässt beim Unsichersein und dabei, wie sie sich einen Reim macht auf die Welt. Jia Tolentino ist so eine Freundin.
Die 32-Jährige gilt als eine der besten Essayistinnen Amerikas. Sie schreibt für das Ostküstenmagazin „New Yorker“und wird wahlweise als Susan Sontag der Millennials bezeichnet oder als Joan Didion des Internets. Beides ist Quatsch, zeugt aber vom hohen Ansehen Tolentinos. Ihr soeben auf Deutsch erschienenes Buch „Trick Mirror. Über das inszenierte Ich“versammelt Texte, in denen sie eine Antwort auf die Frage zu finden versucht, wie man darum herumkommt, sich selbst zu kompromittieren.
Das Bemerkenswerte an Tolentinos Texten ist die Art der Ansprache. Man meint, einer Vertrauten zuzuhören. Sie beginnt oft mit einem persönlichen Erlebnis, etwas Biografischem oder einer Beobachtung. Sie reflektiert darüber, versichert das Publikum ihrer Komplizenschaft, breitet Gedanken und Recherche-Ergebnisse aus und kommt zu einer Schlussfolgerung, die nie apodiktisch ist. Sondern
logisch. Tolentino wurde als Tochter philippinischer Einwanderer in Toronto geboren. Sie zog mit ihren Eltern früh nach Houston. Sie nahm als Jugendliche an der Reality-TV-Sendung „Girls v. Boys: Puerto Rico“teil.
1999 war das wichtigste Jahr ihrer Jugend: Ihre Eltern bekamen einen AOL-Anschluss. Tolentino begann direkt, einen Blog zu schreiben. Der Titel des ersten Textes: „Wie Jia internetsüchtig wurde“. Sie wurde stellvertretende Chefredakteurin des feministischen Online-Magazins „Jezebel“. Und sie schrieb jene Art von meinungsstarken Texten, die im Internet gerne gelesen werden. In der ersten Person folgen ihre Stücke den Rissen, die sich durch die Welt ziehen. Tolentino reflektiert über Feminismus, Identitätspolitik, Kommerzialisierung und sexuelle Gewalt.
Tolentino ist der Meinung, sie habe ihre Persönlichkeit ans Internet
verhökert. Die Finanzkrise 2008 sei der Startschuss für das Erwachsenwerden ihrer Generation entlang raffinierter Betrugsmaschen gewesen. Zum Betrüger wurde sie durch die sozialen Medien. Die versprachen Verbundenheit, erschufen jedoch eine Welt, in der man permanent an der Vermarktung seines Ichs und seiner Beziehungen arbeite. Mit Postings bei Facebook oder Instagram gebe man sich wie auf einer Theaterbühne, vor der verschiedene Milieus Platz genommen hätten: Freunde, Eltern, Arbeitgeber, Feinde, Sexualpartner. Wer auf der Bühne stehe, fühle sich kurz, als befinde er sich im Zentrum des Universums. Aber das sei eine Illusion. In Wirklichkeit sei man das willige Opfer kommerzieller Interessen anderer. In Texten wie „Das Ich im
Internet“breitet Tolentino aus, wie das Leben in solchen Blasen funktioniert: „Es ist, als hätte man uns auf einen Aussichtspunkt gestellt, von dem aus die ganze Welt zu sehen ist, und uns ein Fernglas gegeben, mit dem alles wie unser Spiegelbild aussieht. Durch die sozialen Medien sind viele Menschen schnell zu der Ansicht gelangt, alle neuen Informationen seien eine Art direkter Kommentar darüber, wer sie sind.“Und sie verdeutlicht, welche Wirkung das hat. Feminismus etwa sei heute zumeist marktkonform. Er verspreche Gleichberechtigung für alle, beschränke sich aber allzu oft darauf, den Erfolg vereinzelter Bossinnen als progressive Politik zu verkaufen.
Das aus den Texten sprechende Ich ist charmant, lustig, herzlich, bisweilen verbissen, zudem selbstkritisch und sehr offen. Tolentino dabei zu begleiten, wie sie Selbsttäuschungen abzuschütteln versucht, ist so erhellend wie unterhaltsam. Per Instagram versorgt sie ihr Publikum parallel dazu mit Status-Updates: Sie dokumentiert ihre Schwangerschaft und das veränderte Leben mit „Baby P“ebenso wie ein Video-Gespräch mit Margaret Atwood. Sie beschreibt, wie sie abends ihre App abschaltet, die ihre Bildschirmzeit begrenzt, um weiter surfen zu können. Tolentino zitiert Simone Weil, Donna Haraway, Anne Carson, Joan Didion und Simone de Beauvoir. Sie mutet ein bisschen wie Alice an, der man ins Wunderland folgt, das aber nicht mehr hinter einem Spiegel liegt, sondern hinter dem Screen des Smartphones. Was im Grunde dasselbe ist.
Was macht das mit einem, wenn man immerzu darüber nachdenkt, wie man sein kann, wer man wirklich
ist? Wie verhindert man, dass das Selbst eine Rolle wird und das So-Sein zur Performance? Tolentino verhandelt Probleme, deren Rahmen das Internet setzt. Sie entlarvt das Phänomen des Selbstoptimierung als Folge der Anpassung des Mainstream-Feminismus an Patriarchat und Kapitalismus. Die Sportart Barre etwa, eine von Hollywoodstars und Topmodells popularisierte Mischung aus Ballettposen, Yoga und Gymnastik, entzaubert sie mit wenigen Sätzen. „Was dieser Sport wirklich kann, ist, dich für ein hyperbeschleunigtes Leben im Kapitalismus in Form zu bringen. Das wichtigste Ziel ist Schönheit, nicht Stärke. Schönheitsarbeit heißt nun Selfcare, damit sie progressiver wirkt.“
Das Streben nach einem sorglosen und glücklichen Erscheinungsbild könne verhindern, dass man sich tatsächlich so fühle, warnt Tolentino. Feminismus dürfe nicht auf Annehmbarkeit zielen, er sei kein Beweis für die Effizienz des Systems. „Ich weiß nicht, ob ich der Wahrheit hinterherjage oder an ihrer schwindenden Halbwertszeit hänge“, schreibt Tolentino. Und weil sie sich manchmal selbst schwertut, die Tür zu finden, die aus dem Spiegelsaal der digitalen Gegenwart führt, beendet sie Texte mitunter mit Fragen: „Was würdest du wollen? Was wollen wir?“Sie wirkt in diesen Moment aufrichtig.
Wie eine gute Freundin.
Tolentino wird wahlweise als Susan Sontag der Millennials bezeichnet oder als Joan Didion des Internets.