Gegen alle Widerstände
Der Fackellauf soll endgültig zeigen: Die Sommerspiele finden statt. Doch warum hält Japan an Olympia fest?
TOKIO Normalerweise ist dies der Zeitpunkt, zu dem ein nationales Olympiafieber ausbricht: Umzingelt von Kameras und Zuschauern am Straßenrand macht die Fackel ihre ersten Meter in Richtung Gastgeberstadt. Hunderte Promis, wohltätig Engagierte, Nachwuchs- oder Ex-Sportler werden diesen brennenden Stab tragen. Hauptsache das olympische Feuer geht durch viele Hände und quer durchs Land.
Ab diesem Donnerstag ist es auch in Japan so weit. Im vor zehn Jahren durch ein Atomunglück teilweise zerstörten Fukushima beginnt der Fackellauf, dann soll er über 121 Tage durch jede der 47 Präfekturen des Landes führen: Über das subtropische Okinawa im Süden und das kühle Hokkaido im Norden soll die Fackel am Abend des 23. Juli ins Tokioter Olympiastadion getragen werden. Dort wird mit ihr dann das Olympische Feuer entzündet – die Spiele von Tokio wären damit eröffnet.
Nur will das kaum noch jemand. Mehrere japanische Gebiete stecken erneut im Lockdown, die Infektionszahlen steigen auch hier weiter an. Schon Ende letzten Jahres gaben in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo 80 Prozent an, diesen Sommer keine Spiele in Tokio zu wollen. Mittlerweile wollen nur noch neun Prozent, dass die Spiele wie geplant stattfinden. „Tokyo 2020“steht mittlerweile für die vielleicht unbeliebtesten Spiele der Geschichte. Warum also noch daran festhalten?
Das Ganze hat mit Beliebtheit ohnehin nicht viel zu tun, sagt Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophie Universität in Tokio. „Japan ist eine Gesellschaft, in der die öffentliche Meinung kein besonders guter Indikator dafür ist, was passieren wird.“Vieles werde in Hinterzimmern entschieden. So fragen sich in Japan auch immer mehr Menschen, ob es bei den Olympischen Spielen vielleicht gar nicht so sehr um Sport geht. Nakano formuliert diese Zweifel so: „Wenn die Spiele nämlich eigentlich kaum mehr jemand will, wem sollen sie dann nützen? Und vielleicht geht es hier um viel Geld. Und deshalb wird die öffentliche Meinung ignoriert.“
Derzeit wird diskutiert, die Spiele komplett ohne Zuschauer zu veranstalten, damit sie inmitten der Pandemie nicht ganz ausfallen müssen. Am Samstag beschlossen die Veranstalter schon, dass Zuschauer aus dem Ausland ausgeschlossen werden. Über inländische Besucher in den Stadien soll im April entschieden werden. Aus rein finanziellen Gründen ergibt allerdings beides wenig Sinn. Eine Studie der Kansai Universität in Osaka hat ergeben, dass ohne Zuschauer Einnahmen in Höhe von zwölf bis 19 Milliarden Euro entgehen würden. „Wenn es keine Zuschauer in den Stadien gibt, gehen nicht nur die Ticketeinnahmen verloren“, erklärt der Ökonomieprofessor Katsuhiro Miyamoto. Es gebe noch zwei weitere Arten von Verlusten. „Erstens bleiben all die neugebauten Hotels leer, rund um die Spielstätten würde der Konsum ausfallen und Werbeaktivitäten gehen zurück.“
Und dann ist da noch der entgangene Effekt, der dadurch entstünde, dass Gäste, die nach Japan kommen, daheim davon erzählen würden, wie schön es in Japan war.“„Das wäre ein indirekter Werbeeffekt, durch den sich später noch mehr Menschen für Tourismus nach Japan interessieren würden.“
Zum Vergleich: 19 Milliarden entsprachen in etwa den geschätzten Kosten der Spiele, bevor sie wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben werden mussten. Diesem Problem hätte man womöglich dadurch begegnen können, dass man für die Einreise der Zuschauer und Athleten eine Impfung zur Bedingung macht. Für Athleten hat das IOC Impfdosen aus China gesichert. Nur: Im Gastgeberland hat man solche Impfungen schon abgelehnt. Es würden nur Vakzine verwendet, die von nationalen Behörden genehmigt wurden, was für den Stoff aus dem eher ungeliebten Nachbarland China derzeit nicht der Fall ist.
Ein riesiges Verlustgeschäft wird „Tokyo 2020“unter den gegebenen Umständen ohnehin. Nur ist eine Absage kaum eine ernsthafte Erwägung, sagt Michael Naraine. Der Professor für Sportmarketing an der kanadischen Brock University sieht nämlich kaum eine Chance, dass sich dadurch noch Geld sparen ließe. Die meisten Mittel seien schon ausgegeben. „Auch Sponsoringverträge sind so strukturiert, dass ein Großteil der zu zahlenden Summen schon bei der Unterzeichnung überwiesen wird.“Gut 60 japanische Unternehmen haben den Organisatoren kollektiv mehr als drei Milliarden US-Dollar für Werberechte zugesagt. Selbst wenn sie sich aus dem unpopulär gewordenen Event zurückziehen wollten, könnten sie ihr Geld wohl kaum noch zurückkriegen. Eiichi Kido, Politikprofessor an der Universität Osaka, sieht neben Geld auch Politik als treibende Kraft dafür, dass Olympia noch immer nicht abgesagt worden ist. „Die japanische Regierung will die Olympischen Spiele unbedingt durchführen.“Es gehe auch um persönliche Karrieren im politischen Geschäft und Versprechen zwischen Politikern, Sponsoren und anderen Interessensgruppen.
Der in Kidos Augen wichtigste Grund: „Das Motiv von Tokio, die Olympischen Spiele in Japan zu veranstalten, ist Fukushima vergessen zu machen.“Denn nur wenn über das Atomdesaster von Fukushima reichlich Gras gewachsen sei, könne die Regierung darauf hoffen, bald ohne großen gesellschaftlichen Widerstand wieder verstärkt auf die Atomkraft zu setzen. „Sie wissen sicherlich, dass die Lage in Fukushima überhaupt nicht unter Kontrolle ist“, sagt Kido. Noch heute bleiben mehr als 40.000 Menschen, die wegen hoher Strahlenbelastung aus den Gebieten nahe der Atomruine wegziehen mussten, evakuiert. Berücksichtigt man auch diejenigen, die in den Randgebieten aus eigenen Stücken die Region verließen, sind es noch mehr. Doch der ehemalige Premierminister Shinzo Abe behauptete schon im Spätsommer 2013, als Tokio das olympische Austragungsrecht erhielt, das Gegenteil: alles sei unter Kontrolle. Um das zu zeigen, sollen dieses Jahr auch in Fukushima olympische Wettkämpfe im Baseball stattfinden.