Lieblings-Gemälde nachgestellt
Während die Museen geschlossen sind, stellen Leute berühmte Werke zu Hause nach – mit dem eigenen Körper. Das hat Tradition.
DÜSSELDORF Es begann mit dem Werk eines mexikanischen Malers, das einen Mann in Nachdenkpose vor einer Schale mit Getreide zeigt. Tom Wolff, Friedhofsgärtnermeister aus Düsseldorf, war nach einer Operation krankgeschrieben, die Welt draußen stand wegen Corona still. Also suchte Wolff nach einer Beschäftigung daheim. Er fand eine ähnliche Schüssel, legte statt des Getreides eine Bastmatte hinein und schob sich eine weiße Papierkrämpe unter das Hosenbein,
Die Nachahmungen sind auch Sinnbilder des Stillstands in der Corona-Zeit
um auszusehen wie der Mann auf dem Gemälde. Drappierter Hintergrund, Denkerpose, Selfie, fertig war das erste Kunstwerk – und Wolff Teil der wachsenden Gemeinde von Kunstfreunden weltweit, die ihre Corona-Zurückgezogenheit gerade nutzen, um ihre Lieblingswerke nachzustellen. „Ich hab mich früher nicht sonderlich für Kunst interessiert“, sagt Wolff (43), „aber das hat so viel Spaß gemacht, dass ich nach weiteren Motiven gesucht und immer mehr über Maler und ihr Werk gelesen habe.“Inzwischen umfasst sein Oeuvre eine beachtliche Galerie. Die aufwendigste Inszenierung ist ein Caravaggio, für den Wolff sogar eine Requisite gekauft hat: Weintrauben.
Das Getty-Museum in Los Angeles hat auf die neue Begeisterung reagiert und dazu aufgerufen, Kunstwerke aus ihrer digitalen Sammlung nachzustellen. Die Ergebnisse sind unter dem Schlagwort #gettychallenge bei Instagram oder Twitter zu besichtigen. Schon vor dem Museum hatte der niederländische Instagram-Account „tussenkunstenquarantaine“dazu aufgerufen, mit nur drei Alltagsgegenständen große Werke zu immitieren. Da ringen dann Leute mit Staubsaugerschläuchen statt antiker Schlangen oder binden sich statt fürstlicher Perücken Klopapierrollen um den Kopf. Auch unter anderen Schlagworten wie #betweenartandquarantine kursieren Tausende, liebevoll ausgestattete Kunst-Inszenierungen auf den Bilderplattformen. Da krault eine Frau mit strengem Mittelscheitel ihren Hund, um Leonardo da Vincis „Dame mit dem Hermelin“zu gleichen, andere winden sich üppige Blumenkränze ins Haar, um Werken von Frida Kahlo zu ähneln. Auch das Spiel selbst wird schon ironisiert, wenn eine Nutzerin etwa die überdimensionierten „Gurken“von Erwin Wurm nachstellt, indem sie eine echte Gurke fotografiert.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Lust am Nachstellen gerade in Corona-Zeiten
grassiert. Denn dieses Spiel mit der Kunst ist nicht nur ein lustiger Zeitvertreib. Die Imitationen haben eine eigentümliche Wirkung. Sie sind Sinnbilder des Stillstands: Es geht in ihnen um Darstellung, nicht Aktion, um Verkörperung, nicht um Handlung. Während Theater, Museen, Kinos geschlossen sind, das Erzählen zum Erliegen kommt, übernimmt die Skulptur. Menschen daheim werden zu
Darstellern in einem Genre, das den Körper als Material einsetzt und stumme Bilder erzeugt. Diese schweigenden Selbstinszenierungen reflektieren auf frappierende, amüsante, aber auch ein wenig gruselige Weise den aktuellen Zustand: Sie erzählen von der Erstarrung, dem Ausharren, dem Eingefroren sein.
Dazu haben die lebenden Bilder auch eine rebellische Note. Schließlich
greifen sie berühmte Werke auf, deren Reproduktion rechtlich geschützt ist, und verwandeln sie in etwas Selbstgemachtes, das keinem fremden Urheberschutz unterliegt. Das ist Aneignung im wahrsten Sinne. Und es verweist auf ästhetische Debatten etwa über den Werkbegriff und erinnert an Marcel Duchamps „Readymades“. Bereits 1914 erklärte der Wegbereiter des Dadaismus einen Flaschentrockner aus dem
Kaufhaus zum Kunstwerk – allein dadurch, dass er das Objekt ausgewählt hatte. Damit stellte er die Frage nach dem Charisma des Originals, nach der Definition eines Werks – und auch nach dessen Bewertung durch den Kunstmarkt.
Auf ihn bezogen sich dann auch Künstler in den 1960er Jahren, die statt eines Objekts menschliche Körper als lebende Artefakte ausstellten. Piero Manzoni etwa machte 1961 in Italien Menschen in einer Galerie zum Kunstwerk, indem er ihre Körper signierte. Timm Ulrich stellte sich 1966 in Frankfurt gleich selbst aus. Die Signatur durfte auch bei ihm nicht fehlen, Ulrich hatte sie sich auf den Oberarm tätowieren lassen.
Die Mode, Kunstwerke lebendig nachzustellen, hat allerdings noch eine längere Tradition. Die französische Hofdame Madame de Genlis, Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orléans, soll zur Erbauung und Unterrichtung ihrer Zöglinge bereits im 18. Jahrhundert Gemälde nachgestellt haben. Das „tableau vivant“diente dem gehobenen Zeitvertreib und hatte auch eine dekadente Note. Lady Hamilton, Geliebte des britischen Admirals Nelson, wurde für ihre Nachstellung antiker Statuen gefeiert, sie erhob das Stillhalten zur Kunst. Und im 19. Jahrhundert erlebten die „tableaux vivants“im Rheinland eine neue Blüte. Als 1877 Kaiser Wilhelm I. Düsseldorf die Ehre gab, veranstaltete der dortige Künstlerverein „Malkasten“einen „Germanenzug“durch den Park mit einer Reihe kostbarer lebendiger Szenen. Den Künstlerverein gibt es noch heute. Im Sommer des vergangenen Jahres knüpften Studenten der Kunstakademie mit einer Operninszenierung im Park an die Geschichte der lebenden Bilder an.