Das Haus der 20.000 Bücher
An solchen Tagen war das Viertel bis weit in die sechziger Jahre hinein so laut, lebenssprühend und überfüllt wie die großen Londoner Märkte und Jahrmärkte vergangener Zeiten. In jenen Jahren verließ Mimi, inzwischen mittleren Alters, den Laden und stürzte sich mit ihren Einkaufstaschen in das Gewimmel der Petticoat Lane, um Obst und Gemüse für die kommende Woche zu beschaffen. Sie erkundigte sich immer sorgsam nach der Herkunft eines Produkts, und wenn ein Standbetreiber unbedacht genug war, Südafrika zu erwähnen, stolzierte Mimi ohne ein weiteres Wort davon. Ihre Weigerung, Geld für Nahrungsmittel aus dem Apartheid-Staat auszugeben, trug ihr wahrscheinlich die ewige Feindschaft der Verkäufer ein, aber nachdem ihr kommunistischer Glaube komplett zerstört worden war, hatte sie dadurch, dass sie die 1959 entstandene Boykott-Bewegung gegen die südafrikanische Rassentrennungspolitik unterstützte, immer noch das Gefühl, eine Art weltlicher Schutzengel zu sein.
Um die Mittagszeit machte sich Chimen der Abwechslung halber zu Ostwind’s auf, einem nahe gelegenen Arbeitercafé mit angeschlossenem jüdischem Feinkostgeschäft in der Wentworth Street, vom Buchladen aus gesehen gleich jenseits der Commercial Street. Überall in der Gegend – in der Wentworth Street, der Commercial Street, der Middlesex Street und der Toynbee Street (Heimstatt des im 19. Jahrhundert entstandenen Zentrums für Gesellschaftsreform Toynbee Hall) – waren noch Jahrzehnte nach Kriegsende Bombenkrater zu sehen.
Nachdem diese Straßen wieder aufgebaut waren, hatte sich ihr Cha- rakter verändert – wie in so vielen Teilen des East End. Die Gebäude sahen anders aus, die Geschäfte, die seit Generationen im Bezirk ansässig waren, schlossen und die ehemaligen Einwanderergruppen wurden von neuen abgelöst. Auf einem Spaziergang im Jahre 2013 durch Chimens und Mimis einstiges Viertel stellte ich fest, dass sich am früheren Standort von Shapiro, Valentine & Co. nun ein vierstöckiger Ziegelwohnblock erhob; vor den Fenstern in den oberen Etagen prangten kleine Balkone mit grün gestrichenen Geländern und bunten Topfblumen. Nebenan war ein türkischlibanesisches Restaurant an die Stelle der Bäckerei Goide’s getreten. Die Synagoge, in der Yehezkel als Rabbiner amtiert hatte, war der Jamme-Mosjid-Moschee gewichen. In den Seitenstraßen hatten HalalSchlachter die koscheren ersetzt, und bangladeschische und pakistanische Restaurants hatten anstelle der alten jüdischen Delis eröffnet. Nur vereinzelt erinnerte noch etwas an das jüdische East End: An einer Gebäudefassade in der Brune Street wurde auf eine Suppenküche „für die jüdischen Armen“hingewiesen; unter der schwarzen Farbe einer Regenrinne, die vom betürmten Dach einer Schule der Church of England herunterführte, ließ sich mit Mühe ein kleiner Davidstern erkennen; eine denkmalgeschützte Ladenfront zeigte die Aufschrift „S. Schwartz“. Die Narben des Krieges waren überwiegend verblasst, und man hatte die Löcher im Gefüge der Straßen mit Boutique-Cafés, modischen Restaurants und teuren neuen Wohngebäuden gestopft.
In jenen Jahren jedoch, als sich Chimen seinen Weg durch das schwierige religiöse und politische Terrain des jüdischen East End bahnte, wurde bei Ostwind’s ein erstaunlich schmackhaftes SpiegeleiSandwich mit Pommes frites und Bohnen serviert. Und obwohl es im Innern nicht weniger lärmend zuging als im kaleidoskopischen Chaos der East-End-Straßenmärkte, konnte Chimen hier jeden Tag eine Verschnaufpause einlegen.
Wenn er die Ladentür am frühen Sonntagnachmittag verriegelt hatte, brach die Familie gewöhnlich nach Golders Green auf, um Chimens strenggläubigen älteren Bruder Moshe, der zu jener Zeit als Kontrolleur in einem koscheren Schlachthaus arbeitete, und dessen Frau Chaya Sara mit ihren beiden kleinen Kindern zu besuchen. Chimen und Moshe plauderten, sowohl zu Hause als auch am Telefon, oftmals stundenlang auf Jiddisch über Politik oder tratschten über gemeinsame Freunde. Mein Großvater pflegte Klatsch zwar als „Blödsinn“abzutun, merkte ihn sich jedoch gut, um ihn anschließend weiterzuerzählen, höchstwahrscheinlich noch ausgeschmückt. Am Spätnachmittag brach die Familie auf, um Tee mit Mimis Schwester Sara und deren Angehörigen zu trinken, die einen Katzensprung von Golders Green entfernt wohnten. Dann kehrten sie rechtzeitig genug nach Hause zurück, damit Mimi die Sonntagsmahlzeit für Chimens Cousine Golda Zimmerman zubereiten konnte, eine erfolgreiche Journalistin, die Chimen in den ersten Kriegstagen die Stelle im Buchladen vermittelt hatte und der man deshalb zugute hielt, meine Großeltern zusammengebracht zu haben. Mimi meinte, sie sei es ihrer angeheirateten Cousine, die mit zunehmendem Alter ein recht isoliertes Leben führte, schuldig, sie mindestens einmal wöchentlich in den Hill- way einzuladen. Obwohl meine Großeltern mit der offiziellen Religion gebrochen hatten, wurde ihre Welt in vielerlei Hinsicht von Ritualen und dicht gewebten Familienbeziehungen bestimmt. Und die ganze Zeit über war Chimen besessen von der Jagd auf Druckwerke und begann, Regal um Regal sein Haus der Bücher zu erschaffen. Wenn man den Hillway 5 durch die Haustür betrat, sah man die Diele in einem ovalen Spiegel reflektiert, der gleich neben der Treppe hing. Dadurch wurde dem dunklen, schmalen Durchgang ein Quäntchen Licht zuteil, das eine Illusion von Größe vermittelte. Hier, in der überladenen Diele, fanden sich die Beweise für Chimens Faszination von den undurchsichtigen Disputen und fast talmudischen Gedankengängen der Revolutionäre des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die ausufernden politischen und philosophischen Schlachten, die diese schreibenden Männer und Frauen in den Jahren vor seiner Geburt ausgetragen hatten, waren für Chimen weit mehr als ein abstrakter Schlagabtausch. Vielmehr dienten ihm die Dispute – und die daraus hervorgegangenen Essays und Manifeste mit ihrem peniblen Fußnotenapparat – als Maßstab für sein eigenes Leben. Damit hatte er bereits als Jugendlicher begonnen. Nach seiner Ankunft in London lernte Chimen Englisch am Pitman Central College. Später, in der Annahme, nur für den Sommer sein Studium in Jerusalem zu unterbrechen, wirkte er im Auftrag des Verlegers Bela Horovitz an der East and West Library mit, einer Reihe über jüdische Philosophie.
(Fortsetzung folgt)