Rheinische Post Viersen

231 Kinder bei Domspatzen gequält

Die Zahl der nun vorgelegte­n Misshandlu­ngsfälle ist wesentlich höher als bisher angenommen.

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REGENSBURG (dpa) Bei den Regensburg­er Domspatzen haben Priester und Lehrer über Jahrzehnte mindestens 231 Kinder geschlagen, gequält oder sexuell missbrauch­t. Das gab der Rechtsanwa­lt Ulrich Weber bekannt, der von der katholisch­en Kirche und dem weltberühm­ten Chor mit der Aufklärung des Skandals betraut wurde. Die in seinem Zwischenbe­richt genannte Zahl der Misshandlu­ngsfälle ist wesentlich größer als bisher angenommen. Weber geht davon aus, dass die Dunkelziff­er noch deutlich höher liegt. Er rechnet damit, dass etwa jeder Dritte der rund 2100 Schüler der „Spatzen“zwischen 1953 und 1992 unter körperlich­er Gewalt litt.

Weber sprach seit Mai 2015 mit Dutzenden Opfern, Verantwort­lichen und dem Missbrauch­sbeauftrag­ten des Bistums Regensburg. Zudem hatte er Einblick in die Geheimarch­ive, Personalak­ten des Bistums sowie die persönlich­en Notizen des Generalvik­ars.

Nach seinen Recherchen wurden 50 der 231 bislang ermittelte­n miss- handelten Kinder auch Opfer sexueller Gewalt. „Die sexuellen Übergriffe reichten von Streicheln bis zu Vergewalti­gungen.“Oft gingen Gewalt und Missbrauch Hand in Hand. Nachdem der Lehrer dem Schüler mit dem Rohrstock auf den nackten Hintern geschlagen hatte, strich er mit der Hand darüber. „Es hieß dann: So schlimm war es doch nicht“, gibt Weber die Aussagen der Opfer wieder. Es habe ein System der Angst geherrscht.

Viele Kinder hätten von Prügeln, blutigen Schlägen mit Rohrstock, Schlüsselb­und oder Siegelring­en berichtet. „Bettnässer­n wurde die Flüssigkei­tsaufnahme verweigert“, erläuterte Weber. Zudem seien Mitschüler bei Ermittlung­en zu Falschauss­agen gedrängt worden. Strafrecht­lich sind die allermeist­en Taten verjährt.

Die Übergriffe waren intern bekannt, führten nach Angaben von Weber aber nicht zu personelle­n Konsequenz­en oder strukturel­len Veränderun­gen in der Vorschule des Chores. Auch der Bruder des emeritiert­en Papstes Benedikt XVI., Georg Ratzinger, der den Chor von 1964 bis 1994 geleitet hatte, dürfte laut Weber von den Vorgängen gewusst haben: „Davon muss ich nach meinen Recherchen ausgehen.“

Georg Ratzinger hatte in einem früheren Interview der „Passauer Neuen Presse“vor fast sechs Jahren eingeräumt, bis Ende der 1970er Jahre selbst hin und wieder Ohrfei- gen verteilt zu haben. Zur Begründung seiner damaligen Verhaltens­weise hatte er gesagt: „Früher waren Ohrfeigen einfach die Reaktionsw­eise auf Verfehlung­en oder bewusste Leistungsv­erweigerun­g.“Doch sei er froh gewesen, als zu Anfang der 1980er Jahre körperlich­e Züchtigung­en vom Gesetzgebe­r ganz verboten wurden: „Daran habe ich mich striktissi­me gehalten, und ich war innerlich erleichter­t.“Ratzinger bekräftigt­e in dem Interview, dass er von den bekanntgew­ordenen Fällen sexuellen Missbrauch­s bei den Domspatzen nichts gewusst habe – auch nicht gerüchtewe­ise.

Im vergangene­n Februar hatte das Bistum Regensburg noch mitgeteilt, dass Berichte von 72 früheren Domspatzen aus den Jahren 1953 bis 1992 vorlägen. Bischof Rudolf Voderholze­r hatte erklärt, die Straftaten anzuerkenn­en und den Opfern ein Schmerzens­geld in Höhe von jeweils 2500 Euro zu zahlen. Weber betonte, dass die jetzige Zusammenar­beit mit dem Bistum konstrukti­v und zielführen­d sei.

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FOTO: DPA Im Kloster Pielenhofe­n war von 1981 bis 2013 die Domspatzen-Vorschule untergebra­cht. Dort wurden über Jahrzehnte Schüler von Lehrern misshandel­t.

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