Ein altes Gespenst mobilisiert die Nato
„Black Eagle”, „Iron Sword”, „Trident Lance” oder „Trident Joust“– mit einer Kette kleiner und großer Manöver setzt das westliche Verteidigungsbündnis seinen neuen Kurs um: Russland, so die Botschaft, darf Polen, das Baltikum und Skandinavien nicht antast
BYDGOSZCZ Wehten nicht die 28Flaggen aller Nato-Staaten vor dem Eingang, wäre das Trainingszentrum im polnischen Bydgoszcz scheinbar ein Bürogebäude wie jedes andere. Doch drinnen wird gerade die Rückeroberung einer besetzten estnischen Insel vorbereitet: Der Feind ist auf die Insel Hiiumaa zurückgedrängt worden, Nato-Verbände sind mit Hubschraubern und Schiffen gelandet und setzen, unterstützt von Jagdbombern und Kriegsschiffen, zum Gegenangriff an.
Doch ein Schuss fällt nicht - der Kampf tobt nur virtuell: 400 Soldaten aus 23 Staaten simulieren, durch Computer vernetzt, eine Kampfgruppe von 40000 Mann, Ausschnitte der Lage waren vorher im polnischen Manöver „Anakonda“mit echten Panzern und Flugzeugen geübt worden. Schon die Wahl des Ortes Bydgoszcz für eine Nato-Trainingseinrichtung ist ein Signal. Ganz in der Nähe, im Baltikum, hat das Bündnis eine unsichtbare rote Linie in Richtung Moskau gezogen: bis hierhin und nicht weiter.
Als Reaktion auf die Ukraine-Krise und die Annexion der Krim hatten die Staats- und Regierungschefs der Nato auf ihrem Gipfeltreffen Anfang September in Wales beschlossen, die Truppenpräsenz in den Mitgliedsstaaten Osteuropas zu erhöhen – über eine schnelle Eingreiftruppe, die in wenigen Stunden vor Ort sein kann, sowie deutlich mehr Manöver. Die Militärs setzen diesen Auftrag jetzt um. Mit „Black Eagle“(„Schwarzer Adler“) in Polen, „Iron Sword“(„Eisernes Schwert“) in Litauen und „Trident Lance“(„Dreizack-Speer“) in Grafenwöhr stehen bis zum Jahresende noch drei weitere Übungen an.
Die fiktive Lage von „Trident Joust“(„Dreizack-Turnier“) war ein deutliches Signal in Richtung Russland: Der Aggressor Bothia hat das Nato-Mitglied Estland angegriffen und muss nun zurückgeschlagen werden. Artikel fünf des transatlantischen Vertrages ist dafür die Grundlage: Ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat wird als Angriff auf alle angesehen – eine Abschreckungsstrategie, die im Kalten Krieg vier Jahrzehnte lang den Frieden bewahrt hat und danach bis zur russischen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ost-Ukraine Geschichte zu sein schien. Jetzt ist das bedrohliche Gespenst von einst wieder da: Rote Rauten stellen auf einer riesigen Leinwand im Operationszentrum den Feind dar, die blauen Vierecke symbolisieren die Verteidiger. Diese farbliche Unterscheidung gab es schon vor dem Mauerfall. Doch „Trident Joust“ist nicht nur wegen der Computersimulationen ein modernes Manöver: Die Kanadierin Hope Carr hat die Rolle von gleich 40 Journalisten übernommen und bombardiert die Übungstruppe mit kritischen Zeitungsberichten und Kommentaren in den sozialen Netzwerken im Internet. „Das ist ein Gebiet, das die Militärs nicht kontrollieren können, aber auf das sie reagieren müssen“, sagt Carr. „Ich muss so realistisch arbeiten, dass die Soldaten vergessen, dass das nur eine Übung ist.“
Der Begriff des „Eventmanagers“wird in Bydgoszcz anders als im Zivilen verstanden: Vier Soldaten des Leitungsteams spielen nach einem Drehbuch Sabotageaktionen und Cyberangriffe für den Stab ein. Ein US-Offizier, dessen Frau aus Wuppertal stammt, wie er stolz berichtet, beobachtet aufmerksam Dutzende wandernde grüne und blaue Punkte auf seinem Bildschirm: Aktivitäten im Internet verraten ihm, dass hier gerade vom Feind ein „Flashmob“, ein spontan verabredeter Massenprotest, gegen die Nato vorbereitet wird.
Auch Mitarbeiter von acht zivilen Hilfsorganisationen sind in den fensterlosen, schmucklosen Räumen dabei. Sie tauschen mit den Soldaten Informationen darüber aus, wo und wie Unterstützung der Zivilbevölkerung im Kampfgebiet ungefährdet möglich ist.
„Ich bin in den Streitkräften, weil ich meine Heimat schützen will“, sagt Hauptmann Ieva Gulbiniene (30) von der litauischen Luftwaffe, eine der Teilnehmerinnen. „Ich bin froh, dass es die Nato gibt. 28 Nationen sind eine starke Gemeinschaft, und die Zusammenarbeit ist großartig.“Auch wenn die Nato-Soldaten in Bydgoszcz hinter verschlossenen Türen ihre Zusammenarbeit trainieren: In der polnischen Öffentlichkeit wird diese Stabsrahmenübung ebenfalls erfreut registriert.
Denn Polen und die drei baltischen Staaten sind tief besorgt, dass die russische Armee nach dem Muster von Georgien, Moldau und der Ukraine auch sie angreifen könnte, weil angeblich russische Bürger in Gefahr sind: „325 000 der 1,3 Millionen Einwohner Estlands sind russischer Abstammung; in Lettland ist gerade eine russlandnahe Partei zur stärksten Partei gewählt worden, jedoch ohne an der Regierung beteiligt zu sein“, erläutert der Befehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum, der deutsche Viersterne-General Lothar Domröse. „Da kann man die Angst schon nachvollziehen, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass es der russische Präsident Wladimir Putin wagen würde. Nein, einer gegen 28, das wird er nicht machen.“
Domröses Stab ist von Brunssum in den Niederlanden aus über Geilenkirchen mit gecharterten Zivilflugzeugen binnen 24 Stunden nach Bydgoszcz eingerückt – auch diese Schnelligkeit soll eine Warnung sein. Zeitgleich zu „Trident Joust“üben amerikanische Fallschirmjägereinheiten mit baltischen Truppen die Zusammenarbeit, parallel läuft auch in der Slowakei eine große Übung mit mehreren Nato-Nationen.
Ein Nato-Team aus Brunssum hat unterdessen 15 Tage lang Estland bereist. „Es geht darum, bei sich abzeichnenden Bedrohungen von Mitgliedsstaaten eine glaubwürdige Abschreckung sicherzustellen“, erklärt der Teamchef, der belgische Oberst Hans Houf, den Auftrag seine kleinen Truppe. Sie sollte Häfen, Flugplätze, Kasernen und Depots finden, die für Nato-Trainingsmissionen und die Verstärkung durch die neue schnelle Eingreiftruppe in einem Krisenfall geeignet sind. Im Februar 2015 wollen die Nato-Verteidigungsminister über die neue Schnelle Eingreiftruppe beschließen. Domröses Stab erarbeitet dafür die Pläne.
„Wir sind da, wenn ihr in Gefahr seid, das wollen wir demonstrieren“, sagt General Domröse. „Es ist aber für uns wichtig, die Balance zu halten, dass sich die Bevölkerung hier geschützt fühlen darf, aber Präsident Putin nicht behaupten kann, dass er bedroht werde.“Auf die Einhaltung des Nato-Russlandvertrages werde daher streng geachtet: Truppen des Bündnisses dürfen danach nicht fest in den östlichen Mitgliedsländern stationiert werden, wechselnde Kräfte größer als in Brigadestärke (5000 bis 6000 Soldaten) nicht gleichzeitig dort sein.