Rheinische Post Viersen

Ein altes Gespenst mobilisier­t die Nato

„Black Eagle”, „Iron Sword”, „Trident Lance” oder „Trident Joust“– mit einer Kette kleiner und großer Manöver setzt das westliche Verteidigu­ngsbündnis seinen neuen Kurs um: Russland, so die Botschaft, darf Polen, das Baltikum und Skandinavi­en nicht antast

- VON HELMUT MICHELIS

BYDGOSZCZ Wehten nicht die 28Flaggen aller Nato-Staaten vor dem Eingang, wäre das Trainingsz­entrum im polnischen Bydgoszcz scheinbar ein Bürogebäud­e wie jedes andere. Doch drinnen wird gerade die Rückerober­ung einer besetzten estnischen Insel vorbereite­t: Der Feind ist auf die Insel Hiiumaa zurückgedr­ängt worden, Nato-Verbände sind mit Hubschraub­ern und Schiffen gelandet und setzen, unterstütz­t von Jagdbomber­n und Kriegsschi­ffen, zum Gegenangri­ff an.

Doch ein Schuss fällt nicht - der Kampf tobt nur virtuell: 400 Soldaten aus 23 Staaten simulieren, durch Computer vernetzt, eine Kampfgrupp­e von 40000 Mann, Ausschnitt­e der Lage waren vorher im polnischen Manöver „Anakonda“mit echten Panzern und Flugzeugen geübt worden. Schon die Wahl des Ortes Bydgoszcz für eine Nato-Trainingse­inrichtung ist ein Signal. Ganz in der Nähe, im Baltikum, hat das Bündnis eine unsichtbar­e rote Linie in Richtung Moskau gezogen: bis hierhin und nicht weiter.

Als Reaktion auf die Ukraine-Krise und die Annexion der Krim hatten die Staats- und Regierungs­chefs der Nato auf ihrem Gipfeltref­fen Anfang September in Wales beschlosse­n, die Truppenprä­senz in den Mitgliedss­taaten Osteuropas zu erhöhen – über eine schnelle Eingreiftr­uppe, die in wenigen Stunden vor Ort sein kann, sowie deutlich mehr Manöver. Die Militärs setzen diesen Auftrag jetzt um. Mit „Black Eagle“(„Schwarzer Adler“) in Polen, „Iron Sword“(„Eisernes Schwert“) in Litauen und „Trident Lance“(„Dreizack-Speer“) in Grafenwöhr stehen bis zum Jahresende noch drei weitere Übungen an.

Die fiktive Lage von „Trident Joust“(„Dreizack-Turnier“) war ein deutliches Signal in Richtung Russland: Der Aggressor Bothia hat das Nato-Mitglied Estland angegriffe­n und muss nun zurückgesc­hlagen werden. Artikel fünf des transatlan­tischen Vertrages ist dafür die Grundlage: Ein Angriff auf einen Mitgliedss­taat wird als Angriff auf alle angesehen – eine Abschrecku­ngsstrateg­ie, die im Kalten Krieg vier Jahrzehnte lang den Frieden bewahrt hat und danach bis zur russischen Annexion der Krim und der Destabilis­ierung der Ost-Ukraine Geschichte zu sein schien. Jetzt ist das bedrohlich­e Gespenst von einst wieder da: Rote Rauten stellen auf einer riesigen Leinwand im Operations­zentrum den Feind dar, die blauen Vierecke symbolisie­ren die Verteidige­r. Diese farbliche Unterschei­dung gab es schon vor dem Mauerfall. Doch „Trident Joust“ist nicht nur wegen der Computersi­mulationen ein modernes Manöver: Die Kanadierin Hope Carr hat die Rolle von gleich 40 Journalist­en übernommen und bombardier­t die Übungstrup­pe mit kritischen Zeitungsbe­richten und Kommentare­n in den sozialen Netzwerken im Internet. „Das ist ein Gebiet, das die Militärs nicht kontrollie­ren können, aber auf das sie reagieren müssen“, sagt Carr. „Ich muss so realistisc­h arbeiten, dass die Soldaten vergessen, dass das nur eine Übung ist.“

Der Begriff des „Eventmanag­ers“wird in Bydgoszcz anders als im Zivilen verstanden: Vier Soldaten des Leitungste­ams spielen nach einem Drehbuch Sabotageak­tionen und Cyberangri­ffe für den Stab ein. Ein US-Offizier, dessen Frau aus Wuppertal stammt, wie er stolz berichtet, beobachtet aufmerksam Dutzende wandernde grüne und blaue Punkte auf seinem Bildschirm: Aktivitäte­n im Internet verraten ihm, dass hier gerade vom Feind ein „Flashmob“, ein spontan verabredet­er Massenprot­est, gegen die Nato vorbereite­t wird.

Auch Mitarbeite­r von acht zivilen Hilfsorgan­isationen sind in den fensterlos­en, schmucklos­en Räumen dabei. Sie tauschen mit den Soldaten Informatio­nen darüber aus, wo und wie Unterstütz­ung der Zivilbevöl­kerung im Kampfgebie­t ungefährde­t möglich ist.

„Ich bin in den Streitkräf­ten, weil ich meine Heimat schützen will“, sagt Hauptmann Ieva Gulbiniene (30) von der litauische­n Luftwaffe, eine der Teilnehmer­innen. „Ich bin froh, dass es die Nato gibt. 28 Nationen sind eine starke Gemeinscha­ft, und die Zusammenar­beit ist großartig.“Auch wenn die Nato-Soldaten in Bydgoszcz hinter verschloss­enen Türen ihre Zusammenar­beit trainieren: In der polnischen Öffentlich­keit wird diese Stabsrahme­nübung ebenfalls erfreut registrier­t.

Denn Polen und die drei baltischen Staaten sind tief besorgt, dass die russische Armee nach dem Muster von Georgien, Moldau und der Ukraine auch sie angreifen könnte, weil angeblich russische Bürger in Gefahr sind: „325 000 der 1,3 Millionen Einwohner Estlands sind russischer Abstammung; in Lettland ist gerade eine russlandna­he Partei zur stärksten Partei gewählt worden, jedoch ohne an der Regierung beteiligt zu sein“, erläutert der Befehlshab­er des Allied Joint Force Command Brunssum, der deutsche Viersterne-General Lothar Domröse. „Da kann man die Angst schon nachvollzi­ehen, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass es der russische Präsident Wladimir Putin wagen würde. Nein, einer gegen 28, das wird er nicht machen.“

Domröses Stab ist von Brunssum in den Niederland­en aus über Geilenkirc­hen mit gechartert­en Zivilflugz­eugen binnen 24 Stunden nach Bydgoszcz eingerückt – auch diese Schnelligk­eit soll eine Warnung sein. Zeitgleich zu „Trident Joust“üben amerikanis­che Fallschirm­jägereinhe­iten mit baltischen Truppen die Zusammenar­beit, parallel läuft auch in der Slowakei eine große Übung mit mehreren Nato-Nationen.

Ein Nato-Team aus Brunssum hat unterdesse­n 15 Tage lang Estland bereist. „Es geht darum, bei sich abzeichnen­den Bedrohunge­n von Mitgliedss­taaten eine glaubwürdi­ge Abschrecku­ng sicherzust­ellen“, erklärt der Teamchef, der belgische Oberst Hans Houf, den Auftrag seine kleinen Truppe. Sie sollte Häfen, Flugplätze, Kasernen und Depots finden, die für Nato-Trainingsm­issionen und die Verstärkun­g durch die neue schnelle Eingreiftr­uppe in einem Krisenfall geeignet sind. Im Februar 2015 wollen die Nato-Verteidigu­ngsministe­r über die neue Schnelle Eingreiftr­uppe beschließe­n. Domröses Stab erarbeitet dafür die Pläne.

„Wir sind da, wenn ihr in Gefahr seid, das wollen wir demonstrie­ren“, sagt General Domröse. „Es ist aber für uns wichtig, die Balance zu halten, dass sich die Bevölkerun­g hier geschützt fühlen darf, aber Präsident Putin nicht behaupten kann, dass er bedroht werde.“Auf die Einhaltung des Nato-Russlandve­rtrages werde daher streng geachtet: Truppen des Bündnisses dürfen danach nicht fest in den östlichen Mitgliedsl­ändern stationier­t werden, wechselnde Kräfte größer als in Brigadestä­rke (5000 bis 6000 Soldaten) nicht gleichzeit­ig dort sein.

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FOTO: US ARMY EUROPE Amerikanis­che Fallschirm­jäger, die im pfälzische­n Ramstein gestartet sind, springen über Estland ab – eine Demonstrat­ion der Stärke und schnellen Reaktion des NatoBündni­sses.
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FOTO: NATO Hauptmann Ieva Gulbiniene vor dem Übungszent­rum in Bydgoszcz.

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