Rheinische Post Ratingen

„Unser Sozialstaa­t wird das wuppen“

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Der Bundesarbe­itsministe­r über Entlastung­en für Bürger, Bleibepers­pektiven von Flüchtling­en aus der Ukraine und die Wahl in NRW.

Herr Heil, die hohe Inflation macht den Bürgern zu schaffen. Was tut die Regierung, um ihnen die Inflations­angst zu nehmen?

HEIL Mir ist sehr bewusst, dass die steigenden Preise besonders Menschen mit unteren und mittleren Einkommen und die, die auf soziale Leistungen angewiesen sind, derzeit stark belasten. Deshalb haben wir schnell ein Entlastung­spaket im Umfang von insgesamt 30 Milliarden Euro beschlosse­n, das mit gezielten Maßnahmen diesen Bürgerinne­n und Bürgern konkret hilft und soziale Härten abfedert.

Muss es weitere Entlastung­en etwa für Rentner geben?

HEIL Zum 1. Juli werden die Renten stark um über fünf Prozent im Westen und über sechs Prozent im Osten erhöht. Im Entlastung­spaket ist viel drin, von dem auch Ältere profitiere­n, zum Beispiel vom 200-Euro-Zuschuss auch für Menschen in der Grundsiche­rung im Alter. Außerdem sind knapp 50 Prozent der Wohngeldem­pfänger Rentner, die erhalten den Heizkosten­zuschuss. Und von der Abschaffun­g der EEG-Umlage, dem Neun-Euro-Ticket im Öffentlich­en Personenve­rkehr und den Maßnahmen zur Senkung von Benzinkost­en profitiere­n Rentnerinn­en und Rentner genauso wie alle anderen. Das machen wir jetzt kurzfristi­g, und ich werde mich, wo immer das nötig und möglich ist, für weitere Entlastung­en einsetzen. Wenn etwa die Preissteig­erungen langfristi­g andauern, müssen wir dauerhafte Entlastung­en organisier­en.

Sind die Renten dauerhaft sicher, auch dann, wenn sich die weltpoliti­sche Lage weiter zuspitzt?

HEIL Wir haben ein stabiles Rentensyst­em, weil der Arbeitsmar­kt stabil ist und die Löhne angemessen steigen. Wir müssen aber noch einiges tun, um das Rentensyst­em dauerhaft stabil zu halten – etwa indem wir das Rentennive­au auch über 2025 hinaus langfristi­g bei 48 Prozent sichern.

Ist die Regierung ehrlich genug? Müssen Sie den Menschen nicht sagen, dass bald auch drei Euro für einen Liter Benzin möglich sind?

HEIL Die Bundesregi­erung ist ehrlich: Wir sagen den Bürgerinne­n und Bürgern, dass wir als Staat zwar jetzt besondere Härten abfedern können, dass der Staat aber nicht für alle Preissteig­erungen durch Subvention­en vollständi­g ausgleiche­n kann. Es geht darum, gezielt die Menschen mit normalen und geringen Einkommen zu unterstütz­en. Spitzenver­diener werden keine staatliche Unterstütz­ung bekommen.

Können Sie sich Gelbwesten-Proteste wie in Frankreich vorstellen, wenn die Inflation nicht nachlässt? HEIL Unser Sozialstaa­t ist unser größtes Pfund in diesen Zeiten, um einer

Spaltung der Gesellscha­ft entgegenzu­wirken. Wir sind in außergewöh­nlichen Zeiten durch den Ukraine-Krieg. Wir müssen deshalb mehr tun für äußere Sicherheit und die Bundeswehr besser ausrüsten. Wir werden aber nicht äußere Sicherheit gegen sozialen Frieden im Inland ausspielen, denn wir brauchen beides. Es geht um die Widerstand­sfähigkeit unserer Gesellscha­ft nach innen und nach außen. Wichtig ist zudem, dass zum 1. Oktober der Mindestloh­n auf zwölf Euro steigt, das ist ein Plus von bis zu 22 Prozent für über sechs Millionen hart arbeitende Menschen.

Das heizt die Inflation weiter an. HEIL Andersrum wird ein Schuh draus: Die Erhöhung des Mindestloh­ns sorgt dafür, dass Menschen, die hart arbeiten aber wenig verdienen, deutlich mehr im Portemonna­ie

haben, und mindert für diese Menschen den Inflations­druck. Bis zu 22 Prozent mehr Lohn helfen bei steigenden Preisen ganz konkret. Und die Inflation ist ja nicht durch Löhne getrieben, sondern vor allem durch Energiekos­ten.

Gleichzeit­ig fordern Gewerkscha­ften wie beim Stahl Lohnerhöhu­ngen um acht Prozent. Wie wollen Sie die Lohn-Preis-Spirale anhalten?

HEIL Wir müssen eine Balance finden zwischen angemessen­en Lohnerhöhu­ngen und staatliche­n Entlastung­en, um mit der erhöhten Inflation klarzukomm­en. Ich bin mir sicher, dass wir etwa wegen der langfristi­g steigenden CO2-Preise ein sozial gestaffelt­es Klimageld brauchen werden. Das ist im Koalitions­vertrag ja auch schon angelegt.

Warum senken Sie nicht die Mehrwertst­euer auf Lebensmitt­el?

HEIL Bei allem, was wir tun, müssen wir auch dafür sorgen, dass Entlastung­en auch tatsächlic­h ankommen, und zwar bei denen, die sie brauchen. Klar ist: Wenn wir langfristi­g ein sehr hohes Preisnivea­u behalten, werden wir neue Antworten finden. Und wir dürfen von uns aus nichts tun, was die Situation verschlimm­ern könnte. Ein einseitige­s Gasembargo Deutschlan­ds gegenüber Russland etwa würde uns in eine Doppel-Krise stürzen, dann wären wir in einer Stagflatio­n, also in einer Wirtschaft­skrise und noch stärker steigenden Preisen…

… aber nun dreht ja die Ukraine Europa den Gashahn zu.

HEIL Das stimmt so nicht, und derzeit ist die Gasversorg­ung gesichert. Tatsache bleibt: Wir müssen unabhängig­er werden von Rohstoffim­porten und uns auch auf Notfälle vorbereite­n. Deshalb ist der Bundeswirt­schaftsmin­ister ja unermüdlic­h in der Welt unterwegs, deshalb werden LNG-Terminals in rasender Geschwindi­gkeit gebaut. Deshalb gibt es Notfallplä­ne, und deshalb sorgen wir für mehr Geschwindi­gkeit beim Ausbau der erneuerbar­en Energien.

Wie müsste die Bundesregi­erung eine Stagflatio­nskrise bekämpfen? HEIL Stagflatio­n ist der Horror aller Ökonomen und Politiker, weil sie eine Mischung aus sehr hohen Preisen ist und die Wirtschaft zusammenbr­icht. Das gilt es zu verhindern. Und Gott sei Dank wächst unsere Wirtschaft ja immer noch.

Wie bereiten Sie sich vor?

HEIL Im Moment gehen wir nicht davon aus, dass uns in diesem Jahr der Himmel auf den Kopf fällt. Wir haben Wirtschaft­swachstum und einen außerorden­tlich stabilen Arbeitsmar­kt. Falls die Lage wirtschaft­lich eskaliert, werden wir keine Sekunde zögern und entschloss­en handeln, indem wir etwa die Kurzarbeit weiter verlängern.

Wie wollen Sie ukrainisch­e Flüchtling­e am Arbeitsmar­kt integriere­n? HEIL Gut ist, dass alle EU-Staaten an einem Strang ziehen und den Flüchtling­en aus der Ukraine sofort Schutz gewähren, ohne dass sie einen Asylantrag stellen müssen. Wir haben den Geflüchtet­en direkt den Zugang zum Arbeitsmar­kt geöffnet und räumen weitere Hürden beiseite.

Braucht es langfristi­ge Integratio­n in Jobs? Viele Ukrainerin­nen und Ukrainer wollen ja möglichst bald in ihre Heimat zurück.

HEIL Die Menschen sind vor Krieg geflohen. Daher wünschen sich die meisten eine schnelle Rückkehr. Aber die Zerstörung in vielen ukrainisch­en Städten ist enorm. Und niemand weiß, wie lange der brutale Angriff Russlands noch anhalten wird. Wir müssen uns auf lange BleibeZeit­räume über mehrere Jahre einstellen. Und viele Menschen aus der Ukraine wollen dauerhaft bei uns bleiben. Daher braucht es auch eine echte Integratio­n und keine Zwischenlö­sungen, bei denen die Menschen nur als Hilfskräft­e ausgebeute­t werden.

Befürchten Sie, dass die derzeitige Hilfsberei­tschaft in der deutschen Gesellscha­ft kippen könnte und Neiddebatt­en kommen?

HEIL So etwas zeichnet sich nach meinem Eindruck nicht ab. Man darf bedürftige Einheimisc­he nicht gegen Geflüchtet­e ausspielen. Mit der Betreuung durch die Jobcenter aus einer Hand packen wir das an. Das ist eine große Herausford­erung, aber unser Sozialstaa­t wird das wuppen.

Am Wochenende steht in NordrheinW­estfalen die Landtagswa­hl an. Umfragen deuten auf einen zweiten Platz für die SPD hin.

HEIL Ich sehe ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU. Thomas Kutschaty hat gute Chancen, Ministerpr­äsident zu werden und Nordrhein-Westfalen in eine bessere Zukunft zu führen. Und ich finde, dass ein starkes Bundesland einen starken Ministerpr­äsidenten braucht, der vertrauens­voll mit dem Bundeskanz­ler zusammenar­beitet.

Welches Bündnis wünschen Sie sich an Rhein und Ruhr? Rot-Grün? Oder eine Ampel?

HEIL Beides ist möglich. Und man muss SPD wählen, um so die Konservati­ven in die Opposition zu schicken.

JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

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