Hits für Deutschland
Sie ist unsere einzige Popgröße von internationalem Format: Helene Fischer veröffentlicht am 15. Oktober ihr neues Album „Rausch“. Vielleicht findet sich darauf ein zweites „Atemlos“. Es wäre ihr dritter wirklich großer Erfolg.
Eine Quizfrage vorab: Kennen Sie drei Hits von Helene Fischer? Klingt einfach, ist es aber nicht. Jedenfalls nicht, wenn man kein Hardcore-Fan ist. „Atemlos“, klar, ihr großer Kracher. Aber dann? Irgendwann fällt einem vielleicht „Herzbeben“ein. Und was noch? In Beratungen mit anderen kommt man möglicherweise auf „Achterbahn“. Dass viele sich mit einer Antwort auf diese Frage schwertun, zeigt indes, dass der Erfolg der 37-Jährigen nicht allein mit Musik zu tun hat.
Helene Fischer ist Deutschlands größter Popstar. Bereits 2018 führte das „Forbes“-Magazin sie mit geschätzten 32 Millionen Dollar Jahreseinkommen auf Platz acht der bestverdienenden Musikerinnen international. Nun ist sie wieder in aller Munde, denn jemand aus ihrem Umfeld plauderte aus, dass die Sängerin ein Kind erwartet. 2022 plant Fischer in München einen Auftritt vor 150.000 Fans. Und am 15. Oktober erscheint ihr neues Album „Rausch“. Kurz danach bringt das ZDF eine Doku über das Album, dann stellt Fischer ihre neuen Stücke in einer von Stefan Raab produzierten Sat-1-Show vor. Titel: „Ein Abend im Rausch“.
Es gibt drei Arten von Popstars: Die, die Hit um Hit haben und als Persönlichkeiten einem großen Publikum präsent sind. Die, die auf der Straße nicht erkannt werden, obwohl jeder ihre Hits mitsingen kann. Und die, die wirklich alle kennen und erkennen, obwohl es gar nicht so viele populäre Titel gibt. Helene Fischer gehört zum letzteren Typus. Sie ist das, was die Branche „multimediale, interdisziplinäre Hosts und Entertainer“nennt.
Kai Blankenberg fertigt in seinem Düsseldorfer Skyline-Studio das Mastering für Größen der deutschen Popmusik. Er vergleicht Helene Fischer mit Taylor Swift. Die Amerikanerin habe mit Country-Musik begonnen und sich allmählich in den Pop geöffnet. Helene Fischer machte dasselbe mit dem Schlager. Und sie wandelte das Genre damit im großen Stil. Sie öffnete es in den Mainstream; selbst bei Künstlern wie dem Rapper Capital Bra sind ja heute schlagerhafte Elemente zu entdecken. Fischer erweiterte und verjüngte damit ihre Zielgruppe.
Ihre eigentliche Kernkompetenz und damit der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch in den phänomenalen Konzerten, sagt der Komponist und Produzent Dieter Falk, der etwa mit Pur Millionenerfolge hatte. Helene Fischer hätte es sich leicht machen und klassische Konzertformate mit einer Band auf die Bühne bringen können. Stattdessen choreografierte sie artistische Shows im Stil des Cirque du Soleil. Fischer-Konzerte sind Ereignisse auf Las-Vegas-Niveau. Diesen Standard gibt es in Deutschland nicht, in anderer Ausprägung höchstens bei Rammstein. Bei Konzerten agiert Fischer auf Augenhöhe mit Weltstars wie Celine Dion.
„Das Beispiel Helene Fischer zeigt: Lange Aufbauarbeit lohnt sich“, sagt Dieter Falk. Über fast 15 Jahre hinweg habe sie ihre Performance und ihr Auftreten perfektioniert. Fischer stütze sich auf das bestmögliche Umfeld, sagt Falk: ein Management, das enorm gut vernetzt sei, ein großes Label. „Atemlos“war dann der Höhepunkt. Seither spielte sie allein in ihrer eigenen Champions League.
Wenn man mit Leuten aus der Musikbranche spricht, fällt auf, wie sehr alle von der Professionalität dieser Künstlerin schwärmen. Wie groß der Respekt ist. Sie nehme viel auf sich, um Standards zu erreichen, die hierzulande unüblich seien, heißt es. Sie versuche, das Pathos, das große Popmomente auszeichnet, mit viel Engagement auf ihre Shows zu übertragen. Das Einzige, was fehle, sei ein zweiter Hit, ähnlich groß wie „Atemlos“. Ein BranchenInsider verweist auf die Coverversionen,
die Fischer in Konzerten präsentiert: „Bringt man die, wenn man selbst zehn Knüller hat?“
Im deutschsprachigen Raum kann man kaum größer werden als Helene Fischer. Ist Deutschland also zu eng für sie? Sie hat vor einiger Zeit schon ein englischsprachiges Album aufgenommen. Es gab eine Beteiligung an einem Duett-Projekt mit der Stimme von Elvis, außerdem ein Duett mit Robbie Williams. Und kürzlich erschien die Single „Vamos a Marte“mit Luis Fonsi, dem Sänger des Mega-Hits „Despacito“. An diesem Stück arbeiteten zwölf Autoren und fünf Produzenten. Trotzdem ist Fischer kein internationaler Star geworden.
„Warum sollte sie sich das antun?“, fragt Kai Blankenberg. Natürlich wäre es lukrativ, in England und den USA so bekannt zu werden, dass man dort auf Tournee gehen könnte. Konzerte bieten im Pop die größte Verdienstmöglichkeit. „Aber Deutschland ist bereits der viertgrößte Musikmarkt der Welt“, sagt Dieter Falk, „was will sie mehr?“Lieber der größte Fisch im kleineren Teich sein als einer von den kleineren im großen Teich, sagt er.
Wahrscheinlich müsste Fischer auch an ihrer Digital-Strategie etwas ändern. Sie gilt als analoger Star. Ihr Instagram-Kanal wird vergleichsweise selten bespielt. Und bei Spotify gehört sie selbst auf Deutschland gerechnet nicht zu den Giganten. „Atemlos“liegt bei 98 Millionen Abrufen, „Herzbeben“bei 59 Millionen, „Achterbahn“bei 37 Millionen, „Vamos a Marte“bei acht Millionen. Zum Vergleich: das Lied „Roller“des Deutsch-Rappers Apache 207 kommt auf 282 Millionen Abrufe. Fischer-Fans kaufen CDs.
Was sagt es aus über eine Zeit und über dieses Land, wenn Helene Fischer einen solchen Erfolg hat? „Sie ist die Künstlerin der Merkel-Ära“, sagt Dieter Falk: „nicht links, nicht rechts, nicht allzu mutig. Evolutionär statt revolutionär.“
Kai Blankenberg stimmt zu. „Sie ist die perfekte Künstlerin für eine Zeit, in der Popkultur keine revolutionäre Kraft mehr hat“, sagt er: „Unterhalte mich, aber tu mir nicht weh.“