Vor einem Jahr zerstörte ein Feuer das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Die griechische Regierung hat seitdem Tausende Migranten aufs Festland gebracht. Rund 5000 Geflüchtete, vor allem aus Afghanistan, bleiben ohne Perspektive in einem abgeschirmten Ze
Reifen auf, der Sand blockierte die Technik. Ein elektrischer Rollstuhl ist nicht für ein Leben am Strand gemacht.
Ihre Familien legen den Syrer Alafaat und die Afghanin Rezaie im Camp auf den Boden, um sie mit einem Eimer Wasser zu waschen. Sie hieven sie auf die Dixi-Klos. Alafaat verbrachte den Winter in seinem Wohncontainer. Der elektrische Rollstuhl wäre draußen im Schlamm stecken geblieben. Während der Hitzewelle im August verwandelte sich der Container in einen Backofen. „Helfer haben uns einen Ventilator gegeben, aber wir haben nur drei Stunden am Tag Strom im Lager“, sagt der Syrer. Bald könnten schon wieder Feuchtigkeit und Kälte der Familie den Schlaf rauben. Ohne Strom funktionieren auch keine Heizstrahler. „Ich habe große Angst vor dem Winter“, sagt der Syrer.
Fabiola Velasquez knetet und streckt in ihrer Praxis in Mytilini das verletzte Gewebe ihrer Patienten aus dem Zeltlager, damit es nicht völlig verkümmert. Sie könne angesichts der Lebensbedingungen dort keine Fortschritte erreichen. „Ich kann nur verhindern, dass es schlimmer wird“, sagt die Therapeutin.
Ein meterhoher Zaun umgibt das neue Lager am Strand. Polizisten stehen in Kampfmontur und mit Schilden am Eingang. Sie kontrollieren, wer in das Camp hineingeht und wer es verlässt. Das Ausweichlager für 5000 ehemalige Moria-Bewohner nennt auf Lesbos niemand
Kara Tepe. Das bedeutet „schwarzer Hügel“und bleibt für die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen der Name der geschlossenen Familienunterkunft oberhalb des Strandes. Manche nennen das neue Camp am Meer einfach „Moria 2“.
Wer das abgeriegelte Lager besuchen will, braucht Helfer, die Risiken eingehen. Journalisten ist der Besuch des neuen Camps seit der Eröffnung nach dem Brand in Moria nicht gestattet. Sie mitzubringen, ist auch verboten. Vor der Pandemie hieß es zur Begründung, es ginge um die Privatsphäre der Geflüchteten. Seitdem das Coronavirus auch in Griechenland umgeht, wird auf den Infektionsschutz verwiesen. Handyvideos von Bewohnern und Helfern informierten im vergangenen Oktober die Öffentlichkeit darüber, dass das neue Lager im Schlamm versank. Niemand sonst hätte von dort berichten können. Die im Lager akkreditierten Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Mitarbeiter anmelden. Aber das Personal der Nichtregierungsorganisationen wechselt regelmäßig – und wer sich unverdächtig verhält, zieht in der Mittagspause keine
Aufmerksamkeit auf sich. Die Polizisten stehen am Eingang des Camps im Schatten ihrer Einsatzwagen und lassen Autos passieren, als ginge sie das nichts an.
Das SUV einer Hilfsorganisation braust über eine Schotterpiste entlang des Strandes an den Zelten des UN-Flüchtlingshilfswerks vorbei. Der Weg führt an Wachposten vorbei zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier leben die Versehrten wie Khaled Alafaat, denen ein Schlafplatz auf dem Boden eines Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. Die Bewohner meiden den Sturm und die Glut in der Mittagszeit. Aus dem Dschungel von Moria ist eine Wüste geworden.
Nur eines von sieben Kindern aus dem Lager konnte nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“im vergangenen Jahr zur Schule gehen. Dabei ist ein Drittel der Camp-Bewohner im schulpflichtigen Alter. Es sind auch viel weniger Migranten auf der Insel als vor dem Brand. 23.000 Migranten
bevölkerten im März 2020 den „Dschungel“von Moria. 12.600 waren es, als in der Nacht vom 8. auf den 9. September bei der Suche nach 35 Corona-Infizierten im Camp zuerst ein Tumult und dann Feuer folgte. Circa 5000 sind davon noch übrig. Wo ist der Rest geblieben?
Der deutsche Helfer Patrick Münz arbeitet auf Lesbos für die Stuttgarter Hilfsorganisationen Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe „#LeaveNoOneBehind“. Er ging im vergangenen September stundenlang Schleichwege, um nach dem Feuer am griechischen Militär vorbei Essen und Wasser zu den Obdachlosen in der Straße vor dem Camp Moria zu bringen. Münz erinnert sich, wie die Geflüchteten in der Hitze Bewässerungsschläuche für Olivenbäume anritzten, um Plastikflaschen zu füllen. Die Behörden hätten nichts zu trinken verteilt, berichtet er. „Neben der Straße liegt ein Lidl, und niemand ist auf die Idee gekommen, da reinzulaufen und sich das Wasser einfach zu nehmen. Die Leute hatten viel zu viel Angst“, sagt Münz.
Die griechische Regierung habe nach dem Brand ihre Versprechen an die Bevölkerung der Inseln eingelöst, die überfüllten Camps zu leeren, erklärt der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublich lange gebracht haben“, so Münz. Was zunächst wie eine gute Nachricht für die Geflüchteten klingt, sei aber keine. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus erwarte die Geflüchteten von den Inseln nichts, erklärt er. In den Lagern auf die Inseln bleiben die abgelehnten Asylbewerber zurück, in der Regel Afghanen. Sie sollen nach den Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei geschickt werden. Doch Ankara stellt sich stur.
Nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan gebe es für die Afghanen von Lesbos eher Anlass zur Ratlosigkeit als zur Hoffnung, meint Münz. Der Migrationsminister reagierte auf den Einmarsch der Taliban in Kabul mit der Ankündigung, die Grenzanlagen zu verstärken. Athen scheint vorzuplanen für einen neuen Migrantenstrom aus Afghanistan.
Ein Lager neuen Typs soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelten Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand ersetzen. Der deutsche Helfer glaubt, dass die neuen Lager die Geflüchteten so weit wie möglich aus dem Blickfeld der Griechen und Touristen verbannen sollen. Und das Camp am Strand von Lesbos ist noch nicht das Ende der Welt.