Erst Eisenbahntrasse, dann Unruheherd
40 Jahre nachdem der Kampf um die Kiefernstraße in Flingern begonnen hatte, erinnern Jubiläumsführungen an bewegte Zeiten.
FLINGERN-SÜD Kaspar Michels und sieben Mitstreiter der „Arbeitsgruppe Flingerpfad“haben jahrelang recherchiert, sich durch Archive gelesen, private Fotosammlungen gesichtet und Zeitzeugen befragt. Deshalb sind sie sicher: „An der Kiefernstraße liegt die Wiege zur Großstadt Düsseldorf“, sagt Michels. Die Geschichte dieser besonderen Straße in Flingern wird noch bis zum 12. September gefeiert.
Und wohl kaum einer kennt sie besser als Kaspar Michels, der auch Führungen über die Kiefernstraße anbietet. „Erst mit der Eisenbahn begann 1838 die Industrialisierung der verschlafenen Residenzstadt Düsseldorf“, sagt Michels. Die Bevölkerungszahl Düsseldorfs sei in den darauffolgenden 50 bis 70 Jahren auf mehr als eine Viertelmillion angewachsen. „1882 wurde die Grenze von 100.000 Einwohnern und damit die ‚Großstadtgrenze‘ geknackt. 1895/96 waren es bereits 250.000 Einwohner.“Der Grund war die Ansiedlung der metallverarbeitenden Industrie in Flingern und der damit verbundene Bau von Werkswohnungen – wie die an der Kiefernstraße.
Die Recherchen der Arbeitsgruppe brachten auch Abenteuerliches von Schießereien in den 20ern, Lebensretterinnen, Zwangsräumungen, Badehäusern und Tante-Emma-Läden zu Tage. Im Mittelpunkt aber steht der Tag, an dem der
Kampf um den Erhalt der Kiefernstraße begann – dieser jährt sich nun zum 40. Mal.
„1980 habe ich mit einem Nutzungsvertrag auf der Kiefernstraße gelebt. Erst als diese Nutzungsverträge nicht verlängert wurden, wurde besetzt“, erinnert sich Michels. „Die Wohnungsnot war damals in der gesamten Republik groß.“Im Sommer 1981 sind in Düsseldorf viele Häuser besetzt. Die Stadtspitze übergibt dem Verein „Aktion Wohnungsnot“auf der Kiefernstraße in vier Häusern 50 Wohnungen und kündigt an, dies im September 1981 zu wiederholen. Da dies nicht eingehalten wird, werden im Herbst 50 Wohnungen besetzt, die Stadt bricht den Kontakt ab.
Spätestens seit diesem Zeitpunkt gelten die Bewohner der Kiefernstraße als subversiv. In Düsseldorf verbieten Mütter ihren Kindern, dorthin zu gehen. Und dann erlangt die Kiefernstraße unrühmliche Bekanntheit. „Im August 1986 führten 800 Polizisten und 80 Staatsanwälte mit gepanzerten Fahrzeugen, Bussen und Straßensperren über viele Stunden eine Razzia in den Häusern durch, brachen Wohnungen auf und suchten Beweismittel für terroristische Umtriebe im Zusammenhang mit der Rote Armee Fraktion (RAF). Gefunden wurde nichts“, sagt der pensionierte Förderschullehrer Michels. „Die terroristische Vereinigung RAF hätte sich aber auch keinen Gefallen getan, sich hier breit zu machen. Die Kiefernstraße gehörte damals neben der Hafenstraße in Hamburg zu den bundesweit am meisten beobachteten Quartieren.“
Michels lässt in seinen Führungen die Entwicklung der Straße vom Wohnquartier für Stahlarbeiter über den Hotspot rebellischaufrührischer Aktionen gegen bestehende Verhältnisse bis hin zum liebenswert-familiären Wohnquartier für rund 800 Menschen aus 50 bis 60 Nationen und gesamt-künstlerischem Anspruch lebendig werden. Auch Richterin Elisabeth Stöve war mit einer sechsköpfigen Delegation vom Land- und Amtsgericht, darunter auch Landgerichtspräsident Bernd Scheiff, zur ersten von insgesamt zehn Jubiläumsführungen gekommen. „Wir haben einem Sprayer aus Israel die Straße gezeigt. Er war total fasziniert, dass jedes Haus künstlerisch gestaltet ist“, sagte Stöve. Und die GraffitiGestaltung geht bei einem UrbanArt-Festival anlässlich des Jahrestages weiter.
„Inhaltlich geht es der Bewohnerschaft der Kiefernstraße heute wie früher darum, besonders im eigenen Stadtviertel Raum und Möglichkeiten für alle zu schaffen, nicht nur für eine privilegierte Minderheit“, sagt Michels. „Es geht um bezahlbaren Wohnraum, aber auch um Vielfalt, Nachbarschaft und Begegnung, um gegenseitige Hilfe, um Raum für Kunst und Musik, um Beteiligung am politischen und kulturellen Geschehen, um Selbstbestimmung und Partizipation.“