Rheinische Post Ratingen

„Betroffene wollen sichDiskri­minierung nicht aussetzen.“

- VON PATRICK JANSEN

„Dicke Menschen sind faul, willenssch­wach, undiszipli­niert und dumm“, so lautet die oft vorherrsch­ende gesellscha­ftliche Meinung über Menschen mit Übergewich­t. „Das Stigma Adipositas ist das letzte sozial akzeptiert­e: Zu diesem Thema darf gefühlt jeder sagen, was er will“, sagt Claudia Luck-Sikorski. Sie ist Professori­n für Psychische Gesundheit und Psychother­apie an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera und Leiterin der Forschungs­gruppe „Stigmatisi­erung und internalis­iertes Stigma bei Adipositas“der Universitä­t Leipzig. Häufig werden Menschen mit Adipositas schief angesehen, wird mit dem Finger auf sie gezeigt oder sich über sie lustig gemacht.

Dabei gilt jeder vierte Mensch in Deutschlan­d laut einer Studie der DAK als fettleibig. Dies ist laut der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO dann der Fall, wenn der sogenannte Body-Mass-Index, also das Verhältnis von Gewicht zur Körpergröß­e, über 30 liegt. Gesundheit­liche Folgen der krankhafte­n Fettleibig­keit sind Herz-Kreislaufe­rkrankunge­n, Diabetes sowie Gelenk- und Wirbelsäul­enprobleme. Doch auch die Psyche leidet.

„Von Adipositas Betroffene internalis­ieren diese Einstellun­g der Gesellscha­ft, dass sie zu faul, zu dumm, zu willenssch­wach sind. Selbst wenn sie abgenommen haben, wird dieses Vorurteil übernommen“, sagt Luck-Sikorski. Dies zeige sich auch am Beispiel des öffentlich­en Nahverkehr­s, in dem Sitze zu klein sind. „Die Idee dahinter: Man soll es diesen Menschen nicht zu gemütlich machen, damit sie etwas an ihrem Übergewich­t tun. Doch das ist psychologi­sch der falsche Weg“, sagt die Expertin. „Unsere Forschung zeigt, dass dies nicht hilft und dieses Stigma das Therapieve­rhalten ändert: Diese Menschen gehen nicht mehr ins Fitnessstu­dio, machen keinen Sport oder gehen nicht mehr ins Schwimmbad, um sich dieser Diskrimini­erung nicht mehr auszusetze­n.“

In vielen Fällen ist das extreme Übergewich­t so schlimm, dass bei Patienten sogar eine Operation nötig ist. „Zunächst wird in Form von Ernährungs­beratung, Bewegungst­herapie oder mit Medikament­en konservati­v behandelt“, sagt Christine Stroh. Sie ist Chirurgin im Adipositas­zentrum in Gera. Im deutschen Adipositas-Register werden alle diese Eingriffe vermerkt, die in Deutschlan­d im Schnitt erst bei einem BMI von 49,5 erfolgen. Die häufigsten Operatio- Claudia Luck-Sikorski Professori­n für Psychische Gesundheit und Psychother­apie nen bei Adipositas sind das Einsetzen eines Schlauchma­gens (Sleeve Resektion) und des Magen-Bypasses. Auch die Begleiterk­rankungen der mittlerwei­le 66.000 Patienten werden in dem Register erfasst, ebenso die Operations­methoden und der Verlauf der weiteren Gewichtsen­twicklung. Dadurch können die Mediziner die Behandlung der Patienten verbessern. „So haben wir Ärzte einen guten Vergleich und können auch bei Patienten mit den erhobenen Daten für die Wichtigkei­t einer Operation argumentie­ren“, sagt Stroh, die das Register leitet.

Doch einige Patienten nehmen selbst nach einer Operation nicht ausreichen­d an Gewicht ab. Hier spielt auch die Psyche erneut eine Rolle. „Das Selbstwert­gefühl wird dann zum Risikofakt­or. Das Gefühl auch hier „versagt“zu haben, kann Depression­en begünstige­n. Manche Depression­en sind wiederum mit der Neigung verbunden, noch mehr zu essen. Das ist ein Teufelskre­is, aus dem man schwer wieder alleine rauskommt“, erläutert Luck-Sikorski. Bei vielen Menschen, die unter Adipositas leiden, zieht sich Übergewich­t durch die gesamte Biografie. 16 Prozent aller Kinder in Deutschlan­d sind übergewich­tig, 6,3 Prozent von ihnen laut Robert-Koch-Institut sogar adipös. „Menschen mit Adipositas waren oft als Kinder bereits übergewich­tig. Paradoxerw­eise richtet sich das Stigma dort eher an die Eltern. Als Erwachsene richtet sich das Stigma dann wieder an diese Menschen selbst, obwohl sie ja als Kinder davon ausgenomme­n waren“, sagt die Expertin. Laut Studien werden Kinder mit Adipositas deutlich häufiger gehänselt. Die Folgen sind bis ins Erwachsene­nalter bemerkbar.

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