„Betroffene wollen sichDiskriminierung nicht aussetzen.“
„Dicke Menschen sind faul, willensschwach, undiszipliniert und dumm“, so lautet die oft vorherrschende gesellschaftliche Meinung über Menschen mit Übergewicht. „Das Stigma Adipositas ist das letzte sozial akzeptierte: Zu diesem Thema darf gefühlt jeder sagen, was er will“, sagt Claudia Luck-Sikorski. Sie ist Professorin für Psychische Gesundheit und Psychotherapie an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera und Leiterin der Forschungsgruppe „Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas“der Universität Leipzig. Häufig werden Menschen mit Adipositas schief angesehen, wird mit dem Finger auf sie gezeigt oder sich über sie lustig gemacht.
Dabei gilt jeder vierte Mensch in Deutschland laut einer Studie der DAK als fettleibig. Dies ist laut der Weltgesundheitsorganisation WHO dann der Fall, wenn der sogenannte Body-Mass-Index, also das Verhältnis von Gewicht zur Körpergröße, über 30 liegt. Gesundheitliche Folgen der krankhaften Fettleibigkeit sind Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes sowie Gelenk- und Wirbelsäulenprobleme. Doch auch die Psyche leidet.
„Von Adipositas Betroffene internalisieren diese Einstellung der Gesellschaft, dass sie zu faul, zu dumm, zu willensschwach sind. Selbst wenn sie abgenommen haben, wird dieses Vorurteil übernommen“, sagt Luck-Sikorski. Dies zeige sich auch am Beispiel des öffentlichen Nahverkehrs, in dem Sitze zu klein sind. „Die Idee dahinter: Man soll es diesen Menschen nicht zu gemütlich machen, damit sie etwas an ihrem Übergewicht tun. Doch das ist psychologisch der falsche Weg“, sagt die Expertin. „Unsere Forschung zeigt, dass dies nicht hilft und dieses Stigma das Therapieverhalten ändert: Diese Menschen gehen nicht mehr ins Fitnessstudio, machen keinen Sport oder gehen nicht mehr ins Schwimmbad, um sich dieser Diskriminierung nicht mehr auszusetzen.“
In vielen Fällen ist das extreme Übergewicht so schlimm, dass bei Patienten sogar eine Operation nötig ist. „Zunächst wird in Form von Ernährungsberatung, Bewegungstherapie oder mit Medikamenten konservativ behandelt“, sagt Christine Stroh. Sie ist Chirurgin im Adipositaszentrum in Gera. Im deutschen Adipositas-Register werden alle diese Eingriffe vermerkt, die in Deutschland im Schnitt erst bei einem BMI von 49,5 erfolgen. Die häufigsten Operatio- Claudia Luck-Sikorski Professorin für Psychische Gesundheit und Psychotherapie nen bei Adipositas sind das Einsetzen eines Schlauchmagens (Sleeve Resektion) und des Magen-Bypasses. Auch die Begleiterkrankungen der mittlerweile 66.000 Patienten werden in dem Register erfasst, ebenso die Operationsmethoden und der Verlauf der weiteren Gewichtsentwicklung. Dadurch können die Mediziner die Behandlung der Patienten verbessern. „So haben wir Ärzte einen guten Vergleich und können auch bei Patienten mit den erhobenen Daten für die Wichtigkeit einer Operation argumentieren“, sagt Stroh, die das Register leitet.
Doch einige Patienten nehmen selbst nach einer Operation nicht ausreichend an Gewicht ab. Hier spielt auch die Psyche erneut eine Rolle. „Das Selbstwertgefühl wird dann zum Risikofaktor. Das Gefühl auch hier „versagt“zu haben, kann Depressionen begünstigen. Manche Depressionen sind wiederum mit der Neigung verbunden, noch mehr zu essen. Das ist ein Teufelskreis, aus dem man schwer wieder alleine rauskommt“, erläutert Luck-Sikorski. Bei vielen Menschen, die unter Adipositas leiden, zieht sich Übergewicht durch die gesamte Biografie. 16 Prozent aller Kinder in Deutschland sind übergewichtig, 6,3 Prozent von ihnen laut Robert-Koch-Institut sogar adipös. „Menschen mit Adipositas waren oft als Kinder bereits übergewichtig. Paradoxerweise richtet sich das Stigma dort eher an die Eltern. Als Erwachsene richtet sich das Stigma dann wieder an diese Menschen selbst, obwohl sie ja als Kinder davon ausgenommen waren“, sagt die Expertin. Laut Studien werden Kinder mit Adipositas deutlich häufiger gehänselt. Die Folgen sind bis ins Erwachsenenalter bemerkbar.