Türkische Krise macht Schokoriegel kleiner
Jetzt bekommt die Bevölkerung die Konsequenzen des Kursverfalls ihrer Währung auch im Alltag zu spüren.
ISTANBUL Mit dem Ende des Sommers kommt die Finanzkrise im Alltag der Türken an. Die Preise für Gas und Strom steigen schon den zweiten Monat in Folge um jeweils neun Prozent, auch Schulbusse und Fleisch werden teurer. In den Supermärkten sind einige Schokoriegel plötzlich kleiner – die Hersteller reduzieren heimlich die Portionen, um die Kunden nicht mit Preisanhebungen zu erschrecken. Die Inflation ist auf fast 18 Prozent geklettert, den höchsten Wert seit anderthalb Jahrzehnten. In den kommenden Wochen und Monaten dürfte es eher schlimmer als besser werden. Immer mehr Türken geben die Hoffnung auf bessere Zeiten auf und versuchen, das Land zu verlassen.
Der Kursverfall der Lira, die seit Jahresbeginn mehr als 40 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Euro verloren hat, macht die Importe teurer. Nun bekommen die Türken mit jedem Tag deutlicher die Konsequenzen zu spüren. Im westtürkischen Izmir stellten sieben Lokalzeitungen wegen der steigenden Papierpreise ihre Sonntagsausgaben ein. Die Teuerung hat auch Folgen für Millionen von Familien, die vor dem Beginn des neuen Schuljahrs derzeit Hefte und Stifte für ihre Kinder kaufen wollen: Ein Schreibheft kostet dieses Jahr 60 Prozent mehr als im vergangenen September.
Auch in den Einkaufszentren ist die Krise inzwischen spürbar. Hotic, eine bekannte Ladenkette für Schuhe und Accessoires mit einer 50-jährigen Tradition und mehr als 160 Geschäften im ganzen Land, musste Gläubigerschutz beantragen. Grund sei der rapide Wertverlust der Lira, teilte das Unternehmen mit. In einem Istanbuler Shopping Center wurden die Rolltreppen stillgelegt – laut Medienberichten wurden die Treppen gepfändet, weil die Betreiberfirma ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte.
Die Talsohle ist noch längst nicht erreicht, sagen Experten. Die Erzeugerpreise stiegen innerhalb eines Jahres mit mehr als 32 Prozent noch drastischer als die Verbraucherpreise – zumindest ein Teil der Teuerung werde in den kommenden Monaten an die Normalverbraucher weitergereicht, schrieb der Wirtschaftsexperte Ümit Akcay auf Twitter. Der Gegenwert des türkischen Mindestlohns, mit dem viele Familien auskommen müssen, ist seit Jahresanfang von 352 auf 208 Euro gesunken.
Einige Fachleute rechnen im Herbst mit einer Rezession in der Türkei. Bei vielen Unternehmen ist unklar, wie sie ihre Dollar- oder Eurokredite bedienen sollen, die wegen des Wertverlusts der Lira sehr viel teurer geworden sind. Insgesamt stehen türkische Firmen mit mehr als 200 Milliarden Dollar in der Kreide.
Die Regierung in Ankara tut weiter so, als sei die Krise einzig und allein die Folge eines amerikanischen Komplotts. Ob Präsident Recep Tayyip Erdogan der Zentralbank erlaubt, bei ihrer kommenden Sitzung Mitte des Monats die Leitzinsen zu erhöhen, um die Inflation einzudämmen, ist unklar. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbank sei auf Null gesunken, kommentierte der Analyst Timothy Ash von der Beraterfirma BlueRay Asset Management.
Zur Überwindung der Krise setzt Ankara auf die Hilfe Europas, lässt bisher aber keine Bereitschaft zu wirtschaftlichen oder politischen
Reformen erkennen. Das Thema dürfte eine wichtige Rolle beim Besuch von Bundesaußenminister Heiko Maas an diesem Mittwoch in Ankara spielen.
Viele Türken wollen nicht auf bessere Zeiten warten und wandern aus. Die Zahl der türkischen Anträge auf eine Arbeitserlaubnis in den USA ist innerhalb von zwei Jahren um 65 Prozent gestiegen. In Deutschland kommen immer mehr türkische Asylbewerber an: Allein im Juli waren es mehr als 1100. Wegen der politischen Repression in der Türkei haben sie bessere Aussichten auf Anerkennung als noch vor wenigen Jahren. Auch Kanada verzeichnet eine Zunahme türkischer Asylbewerber.
Der Verlust von talentierten und gut ausgebildeten Menschen könnte zu einem Problem werden, das der Türkei noch lange nach Bewältigung der derzeitigen Krise schaden wird. „Das macht mir am meisten Sorgen“, sagt ein Istanbuler Unternehmer über die jüngste Auswanderungswelle.