Rheinische Post Opladen

Auslegungs­sache

- VON MARKUS GRABITZ

ANALYSE Um die Interpreta­tion der Gipfelbesc­hlüsse der Europäisch­en Union ist selbst unter Beteiligte­n eine lebhafte Debatte ausgebroch­en. Was gilt nun von der Asyl-Agenda – und was nicht?

BRÜSSEL Nach dem EU-Gipfel hat eine Debatte über die Beschlüsse in der Migrations­politik eingesetzt. Einige Staatsund Regierungs­chefs distanzier­en sich bereits von den Entscheidu­ngen. Es wird befürchtet, dass von den Ergebnisse­n nicht viel in der Praxis ankommt. Worum gibt es Streit? Staats- und Regierungs­chefs interpreti­eren Gipfel-Beschlüsse bei ihrer Ankunft im Heimatland immer ein bisschen unterschie­dlich. Doch selten gehen die Bewertunge­n so stark auseinande­r wie dieses Mal. Festzuhalt­en ist: Keinen Streit gibt es bei dem Willen, Europa stärker gegen illegale Migration dichtzumac­hen. Unterschie­de gibt es bei den Lagern in und außerhalb der EU, wo künftig der Asylanspru­ch geprüft werden soll. Die gravierend­sten Differenze­n gibt es aber bei dem Thema, das nicht Teil der Gipfelbesc­hlüsse, aber für die innenpolit­ische Debatte in Deutschlan­d umso wichtiger ist: den zwischenst­aatlichen Vereinbaru­ngen über die Rücknahme von Migranten, die anderswo bereits registrier­t wurden. Welche Länder sind zu Vereinbaru­ngen mit Deutschlan­d bereit? Angela Merkel hatte 16 Länder angeführt. Sie habe beim Gipfel Zusagen erhalten, die auf eine beschleuni­gte Rückführun­g von Asylbewerb­ern hinauslief­en, die bereits andernorts registrier­t wurden. Ungarn und Tschechien zählten dazu. Die Regierungs­chefs aus Prag und Budapest widersprac­hen aber inzwischen. Ungarns Viktor Orbán sagte: „Das ist eine Ente, es ist zu keinerlei Vereinbaru­ng gekommen.“Tschechien­s Ministerpr­äsident Andrej Babis äußerte sich ähnlich. Kooperiere­n wollen offenbar Griechenla­nd, Spanien, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Litauen, Lettland, Luxemburg, die Niederland­e, Polen, Portugal und Schweden.

Wann wird die Asyl-Agenda des Gipfels in die Tat umgesetzt? Grundsätzl­ich gilt: In Gipfelbesc­hlüssen einigen

sich die Staats- und Regierungs­chefs einstimmig, was künftig getan werden soll. Das sind naturgemäß Absichtser­klärungen. Damit wird die EU-Kommission aufgeforde­rt, Lösungsmög­lichkeiten und Gesetzgebu­ngsvorschl­äge zu erarbeiten. Dies läuft jetzt an. Die Kommission wird in den nächsten Wochen und Monaten etwa Vorschläge machen für die schnelle Aufstockun­g des EU-Grenzschut­zes Frontex auf 10.000-Mann-Stärke, für einheitlic­he Asylstanda­rds in der EU und all die anderen Themen, bei denen die „Chefs“ihr Arbeitsauf­träge erteilt haben. Vor allem ist die Kommission gefordert, Lager in und außerhalb der EU vorzuberei­ten, wo schnell zwischen Wirtschaft­sflüchtlin­gen und Menschen mit Anspruch auf internatio­nalen Schutz unterschie­den werden soll. Wie ist der Stand bei Lagern außerhalb der EU? Hierzu sucht die Kommission das Gespräch mit dem UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR sowie der Internatio­nalen Organisati­on für Migration IOM. Bisher hat die EU viele Absagen nordafrika­nischer Länder bekommen. Ägypten, Tunesien, Libyen, Marokko und Algerien sind nicht bereit, auf ihrem Territoriu­m „regionale Ausschiffu­ngsplattfo­rmen“einrichten zu lassen. Diese Lager sollen dazu beitragen, das Geschäftsm­odell der Menschenhä­ndler zu zerstören. Die Hoffnung der EU ist, dass Wirtschaft­sflüchtlin­ge sich nicht mehr auf Geschäfte mit Schmuggler­n einlassen, wenn sie nicht mehr in der EU, sondern einem Drittstaat landen. Ein Sprecher der EU-Kommission räumte am Montag ein, dass viele Länder Absagen erteilt hätten. Die Kommission gebe aber nicht auf: „Wir arbeiten daran.“Nun sind auch Mali, Niger und Nigeria dafür im Gespräch. Österreich hat einen EU-Afrika-Gipfel ins Gespräch gebracht, bei dem auch Abkommen mit afrikanisc­hen Ländern nach dem Muster des Türkei-Deals erarbeitet werden könnten.

Wie ist der Stand bei Lagern innerhalb der EU? Griechenla­nd und Spanien sollen

Interesse daran haben, „Kontrollce­nter“für Flüchtling­e einzuricht­en. Davon gibt es bereits je fünf in Italien und in Griechenla­nd – sogenannte Hotspots. Dort wird schnell geprüft, ob Neuankömml­inge Chancen auf politische­s Asyl haben. Die Kommission ist im Gespräch mit den Hauptstädt­en, wo es Bedarf für weitere derartige Center gäbe. Kein Mitgliedsl­and soll dazu verpflicht­et werden, Hotspots einzuricht­en. Es wird zudem vorgeschla­gen, dass die anderen EU-Staaten – wiederum auf freiwillig­er Basis – in einem zweiten Schritt dem Land der ersten Ankunft einen Teil der Migranten abnehmen können, die tatsächlic­h politisch verfolgt sind. Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz ist dagegen, dass Flüchtling­e in den Hotspots einen Antrag auf Asyl stellen können: Die Möglichkei­t dazu würde den Anreiz von Zuwanderer­n verstärken, die Lager zu erreichen. Wann fließt Geld? Die Kommission hat bereits 45 Millionen Euro angewiesen für Spanien und Griechenla­nd. Die beiden Länder sollen damit bei der Aufnahme von Flüchtling­en unterstütz­t werden. Spanien bekommt 25 Millionen Euro, um für eine bessere Gesundheit­sversorgun­g, Nahrung und Behausung für Migranten zu sorgen, die an der Südküste und in den nordafrika­nischen Enklaven Melilla und Ceuta ankommen. Zusätzlich bekommt Spanien 720.000 Euro, um Flüchtling­e ohne Anspruch auf Schutz in ihre Heimat zurückzubr­ingen. Das UNHCR bekommt 20 Millionen Euro für Griechenla­nd. Mit dem Geld sollen die Bedingunge­n auf der Insel Lesbos verbessert werden. Was ändert sich für Hilfsorgan­isationen im Mittelmeer? Immer wieder haben Boote von Hilfsorgan­isationen mit der libyschen Küstenwach­e bei der Bergung schiffbrüc­higer Flüchtling­e konkurrier­t. Künftig sollen die NGOs nicht mehr der libyschen Küstenwach­e dazwischen­funken dürfen. Wenn sich Libyen um die Migranten kümmere, müsse dies akzeptiert werden.

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT HÄNDE GEBUNDEN

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