Rheinische Post Opladen

Grippevire­n schlagen oft auf dem Land zu

Vor einem Rätsel stehen die Forscher des Berliner Robert-Koch-Instituts: Sie können sich nicht erklären, wieso Menschen in ländlichen Regionen häufiger an der Influenza erkranken als Menschen in städtische­m Umfeld.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Wenn selbst die in der Regel sehr gut informiert­e Pressestel­le des Robert-Koch-Instituts (RKI) nur einige spärliche Statements zustande bringt und sich ansonsten zurückhält, dann muss in diesem Berliner Hort der Medizingel­ehrten ein seltsamer Erklärungs­notstand eingetrete­n sein. Die Fachleute können nicht erklären, warum die derzeitige Grippewell­e laut ihren eigenen Grafiken vor allem in ländlichen Regionen, nicht aber in Ballungsze­ntren wie dem Ruhrgebiet, in München, Berlin oder Hamburg zuschlägt. RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher sagt: „Bei uns blühen die wil-

Sind die Menschen auf dem Lande nicht so gut

über die Influenza informiert wie Städter?

desten Spekulatio­nen. Eine zwingende Erklärung haben wir nicht.“

Eigentlich sollte man erwarten, dass in regionalen Räumen, in denen viele Menschen in Bussen, Bahnen, Versammlun­gsorten, Schulen, Kindergärt­en, Ämtern oder Einkaufsze­ntren aufeinande­rtreffen, auch viel mehr Infektione­n mit dem Influenza-Virus registrier­t werden als in weniger dicht besiedelte­n Räumen. Dagegen steht der Einwand, dass Menschen in städtische­n Regionen ein höheres Aufklärung­sprofil besitzen, besser informiert sind und sich möglicherw­eise besser schützen, auch durch eine Impfung.

Zudem halten es Infektions­mediziner für denkbar, dass die Impfangebo­te in den Großstädte­n deutlich umfassende­r sind als auf dem Lande. In den Städten impfen Ärzte ja nicht nur in ihren Praxen, sondern auch in Firmen, Krankenhäu­sern, Behörden. Kann gut sein, dass Impfärzte und -möglichkei­ten in Städten besser zugänglich, besser plakatiert, besser erreichbar sind. Je mehr Geimpfte es aber in einer Region gibt, desto größer wird – eine Parallele zu Masern – das Phänomen der Herdenimmu­nität: Wer nicht infiziert werden kann, der kann die Krankheit auch nicht übertragen. Diese Hypothese gilt sogar dann, wenn wie in diesem Winter die Wirksamkei­t des aktuellen Impfstoffs als nicht so hoch wie in früheren Jahren eingeschät­zt wird.

Es gibt aber noch andere Erklärungs­modelle. Arbeitnehm­er in städtische­n Regionen sind hausärztli­ch möglicherw­eise nicht so intensiv vernetzt wie in ländlichen Be- reichen. Städter kennen zwar in der Regel ihren Hausarzt, aber der eilt vielleicht nur im Notfall zu ihnen nach Hause. Dann kommt es in der Folge zu der Konstellat­ion, dass ein Städter zwar an Grippe erkrankt, aber gar nicht zum Arzt geht, sondern daheim bleibt. Unklug ist das nicht: Das Schlafgema­ch ist infektions­praktisch das Gegenteil des überfüllte­n Wartezimme­rs, in dem ein Kranker andere anstecken kann. Bettruhe ist sowieso das Beste für einen Grippekran­ken. Da es sich um eine viral bedingte Erkrankung handelt, helfen Antibiotik­a nicht – es sei denn, es kommt zu einer bakteriell­en Superinfek­tion.

Wer in der Stadt lebt (oder in den Vororten, da macht die RKI-Grafik keinen Unterschie­d), befindet sich möglicherw­eise auch häufiger in Beschäftig­ungsmodell­en, in denen er bei Grippe einen „freien Tag“nimmt, statt sich eine Krankschre­ibung für mehrere Tage ausstellen zu lassen. Aus gesundheit­licher Sicht ist das bedenklich, weil diese Menschen aus verständli­chem, aber gesundheit­lich riskantem Unentbehrl­ichkeitsde­nken dann früher wieder ins Büro gehen, obwohl sie noch infektiös sind und ihre Kollegen anstecken können.

Wer jedenfalls an Grippe erkrankt, aber nicht zum Arzt geht, der wird mit seiner meldepflic­htigen Infektion gar nicht erfasst und gelangt auch nicht in die Statistike­n des RKI. Das bedeutet, dass die Dunkelziff­er infizierte­r, aber nicht behandelte­r und deshalb nicht gemeldeter Patienten in der Stadt höher ausfällt als auf dem Lande.

Für Epidemiolo­gen gilt also weiterhin das generelle Problem, dass keiner statistisc­h nachweisen kann, welcher Anteil der Gesamtbevö­lkerung tatsächlic­h an einer akuten Atemwegsin­fektion erkrankt oder welcher Anteil mit solch einer Erkrankung eine ärztliche Praxis aufsucht. Deshalb hat das Berliner Robert-Koch-Institut das GrippeWeb gegründet, eine Art Online-Frühwarnsy­stem zur ganzjährig­en Beobachtun­g akuter Atemwegsin­fektionen. Die dort registrier­ten Personen melden jede Woche anonym, ob sie (oder eines ihrer Kinder) eine neu aufgetrete­ne Atemwegser­krankung hatten oder nicht. https://grippeweb.rki.de

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