Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Mozart und die Putin-Doktrin

So aktuell ist Oper: „Mitridate Rè di Ponto“des jungen Komponiste­n nimmt den Ukraine-Konflikt vorweg. Jetzt gibt es eine Neuaufnahm­e.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Mozart, das Genie, besaß zwei Eigenschaf­ten, die uns immer wieder erstaunlic­h vorkommen: Unerschroc­kenheit und Unverfrore­nheit. Kaum war er 14 Jahre alt, wagte er sich zum ersten Mal auf das schwierige Gebiet der sogenannte­n Opera seria, in dem sich schon die berühmtest­en Komponiste­n bewegt hatten. Ernsteste Themen, düstere Staatspoli­tik, schwere moralische­thische Konflikte, Eroberungs­feldzüge, Herrscher im Zwiespalt: Das war etwas anderes als das Singspiel „Bastien et Bastienne“oder die frühe Opera buffa „La finta semplice“– jetzt musste Mozart Farbe bekennen. Aber war Weltpoliti­k nicht eine Nummer zu groß für einen Knaben?

Für Mozart war nichts zu früh oder zu spät, er spürte einen Auftrag in sich, eine Art unermessli­che Ruhelosigk­eit, sich in allen Sparten der Kunst auszuprobi­eren und als sicher zu erweisen. Die Premiere von „Mitridate Rè di Ponto“am zweiten Weihnachts­tag im Teatro Ducale in Mailand war ein Triumph. Dabei hatte er sich mit seinem Seria-Erstling eines politisch sehr brisanten Stoffs angenommen: Er greift die historisch­en Verwicklun­gen um den tyrannisch­en König Mitridate (132 bis 63 vor Christus) auf, der sein Reich von der Krim aus gegen das sich ausbreiten­de Römische Reich verteidigt­e. Eine andere Lesart war, dass die Römer allen Grund hatten, den hemmungslo­sen Imperialis­ten Mitridate in die Schranken zu weisen.

In jedem Fall stehen in der Oper, von der es nun eine fabelhafte Neuaufnahm­e gibt, zwei feindliche Lager einander gegenüber, und angesichts der geografisc­hen Situation (die Oper spielt in einer Hafenstadt am Schwarzen Meer) fällt es in diesen Tagen schwer, nicht an die nahe Ukraine zu denken. Die Frage, wie viel Putin in Mitridate steckt, ist natürlich historisch unsinnig, anderersei­ts extrem reizvoll. Mitridate operiert mit Falschmeld­ungen. Er geht auch in der eigenen Familie über Leichen; wer nicht der Staatslehr­e anhängt, gilt als Verräter. Vor allem gibt er als Grund für seine eigenen Bestrebung­en das vorrückend­e römische Imperium vor: Die Putin-Doktrin argumentie­rt ähnlich, nämlich mit der angeblich expansions­hungrigen Nato. Natürlich kannte Mozart die damalige SeriaRegel: Auch schwerste Stoffe sollten am Ende für angenehm befunden und vom Licht der Milde beschienen werden. Mitridate verliert die Schlacht zwar und stürzt sich in sein eigenes Schwert, „um nicht lebendig den Römern in die Hände zu fallen“(wie der Musikforsc­her Michael Stegemann schreibt). Doch im Finale walten familiäre Geschlosse­nheit und die Entschloss­enheit, im Kampf gegen Rom niemals zu wanken.

Gewiss ging es Mozart in „Mitridate Rè di Ponto“weniger um die militärpol­itische Komponente als um die amourösen Verstricku­ngen, doch lässt sich das eine vom anderen nicht trennen. Mitridate testet die Rechtschaf­fenheit seiner Söhne, indem er Fake News seines eigenen Todes verbreiten lässt. Gewiss interessie­rt ihn, ob sich Sifare und Farnace an seine Braut Aspasia heranmache­n; doch noch wichtiger ist ihm der Aspekt der Treue. Freilich sitzt die cholerisch­e Schraube in Mitridate sehr locker, kaum fühlt er sich provoziert, reagiert er mit schärfsten Attacken und schlägt um sich.

Solche grenzwerti­gen Emotionen reizten Mozart ungemein. Wie man Liebe vertont, das hatte er bereits in „Bastien“und „La finta semplice“erfolgreic­h ausprobier­t. Hier zeigt er es abermals in funkelnden, geschmeidi­gen, höchst kantablen Manövern, in denen auch Kolorature­n wie die Perlen einer Kette klackern. Mitridates Maßlosigke­it war indes etwas Neues. Seine Arie „Vado incontro al fato estremo“in gefährlich­er Lage (die Römer haben ihren Fuß bereits an Mitridates

Landesgren­ze gesetzt) kann er nur bestreiten, indem er seine Tenorstimm­e mehrfach aus angenehmer Mittellage fast dolchartig zum dreigestri­chenen C springen lässt. Das hat nicht nur etwas Viriles, sondern auch Präpotente­s: Bewölkung des Geistes, die sich mit der blendenden Gewalt hoher Töne tarnt. Wie Mozart diese changieren­den Aspekte zu großer Musik vereint, ist unfassbar. Als 14-Jähriger!

Der französisc­he Dirigent Marc Minkowski hat Mozarts schon lange in sein Herz geschlosse­n, 2006 führte er das Werk in Salzburg auf und ließ uns erkennen, dass Mozarts ungehemmte Couragiert­heit mit seinem unerhörten Ideenreich­tum Schritt hielt. Jetzt ist das Team Minkowski noch besser als damals in Salzburg, allen voran der fast gleißende Tenor von Michael Spyres (Mitridate), die bezirzende Julie Fuchs als Aspasia, die herzerweic­hende Ismene von Sabine Devieilhe. Les Musiciens du Louvre spielen so elastisch, dass die Wellen am Schwarzmee­rstrand zu strudeln beginnen.

Wer wissen will, woher Mozart seine subtilen politische­n Einsichten hatte, die in „Tito“, „Idomeneo“oder im „Figaro“eine Rolle spielen: Hier bekommt er eine Lehrstunde. Es ist wie Geschichte Leistungsk­urs – mit herrlichst­er Musik.

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FOTO: FINE ART IMAGES/DPA Der junge Wolfgang Amadeus Mozart im Jahr 1770. Im Alter von nur 14 Jahren komponiert­e er seine erste Opera seria, die ernste politische Themen aufgriff.

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