Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Rheydt als Einkaufsstadt ergibt keinen Sinn“
Der Einzelhandels-Experte der Hochschule Niederrhein über 2G in Geschäften, massive Verluste, Leerstände und Konzepte für Innenstädte.
Wie oft haben Sie sich im Weihnachtseinkauf ein 2G-Bändchen im Einzelhandel anlegen lassen und sind damit shoppen gewesen?
HEINEMANN Ich kaufe seit Jahren nicht mehr stationär im Weihnachtsgeschäft ein. Den Einkaufsstress tun sich seit Jahren immer weniger Verbraucher an. Gewinner der Weihnachtssaison ist der Online-Handel. Allerdings gab es noch einen Unterschied: Das Lieferkettenproblem hat auch vielen Online-Händlern einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Mangel-Wirtschaft kennen wir kaum.
HEINEMANN Viele haben schon im September befürchtet: Das Weihnachtsgeschäft fällt aus. Spielekonsolen, Kinderfahrräder und vieles mehr war ausverkauft. Das hat die Situation des Handels noch einmal verschärft: Die Möglichkeit, die schrecklichen beiden Einzelhandels-Jahre zu kompensieren, fiel im Weihnachtsgeschäft durch die Lieferkettenproblematik weg. Betroffen waren alle Branchen, sogar der Buchhandel, weil viele Bücher nicht gedruckt werden konnten. Im Januar hat es sich etwas entspannt, aber wir haben noch immer die gleichen Vorzeichen für dieses Jahr.
In welchen Bereichen?
HEINEMANN In allen. Vor allem Elektronik, aber es betrifft wirklich alle. Sogar bei Bekleidung. Der stationäre Fashion-Handel hatte 2020 rund 30 Prozent minus und setzt dieses Jahr noch einmal ein Minus von über 20 Prozent drauf. 20 bis 40 Prozent der Neuware kam nicht. Deshalb hat die Branche durch den langen Vorlauf und die Abhängigkeit von Lieferketten gar nicht die Chance, sich zu erholen, wenn sich da nicht etwas radikal ändert.
Dann liegt C&A mit einer Jeans-Produktion in Mönchengladbach doch jetzt im Trend.
HEINEMANN Die Idee ist sicher nicht schlecht, sich von Lieferketten unabhängig zu machen und wieder in Deutschland zu produzieren. Aber es hapert daran, dass wir in Deutschland kaum noch Fachwissen und Fachkräfte haben zu produzieren. Und hierzulande hergestellte Produkte sind mindestens fünfmal teurer. Ich bin überzeugt, dass das der Verbraucher, der verstärkt auf das Geld achten muss, nicht mitmachen wird. Das ist ein Dilemma: Wir brauchen eigentlich eine On-Demand-Produktion, wie C&A das vormacht. Aber der Verbraucher ist das große Fragezeichen.
Welches der beiden Pandemie-Jahre war schlimmer für den stationären Einzelhandel?
HEINEMANN Ganz klar 2020. Die Pandemie mit allen Maßnahmen kam völlig unvorbereitet, viel Ware konnte nicht verkauft werden. Und es gab in den ersten Schritten nur unzureichend Überbrückungshilfen. Eigentlich erst zum Jahresbeginn 2021 wurde die Überbrückungshilfe III so nachjustiert, dass der Handel überleben konnte. Im ersten Pandemiejahr half eigentlich nur das Aussetzen der Insolvenzmeldepflicht und das in dem Jahr erlaubte Nichtzahlen von Mieten. Sonst würde es viele Händler nicht mehr geben.
Im Handel gilt seit Dezember 2G für den Zutritt ins Geschäft.Wie wirkt sich das aus?
HEINEMANN Es ist für den Kunden und die Händler eine Zumutung. Man steht bei Regen und Kälte in einer langen Schlange, dann im Geschäft mit Maske und beschlagener Brille im Laden und findet keinen Berater, weil viel Personal krank ist. Die derzeitige Situation im Einzelhandel ist eine Katastrophe. Mich wundert die Erwartung des Handelsverbands nicht, dass das Minus bleiben wird. Durch die Kapazitäten, die Auflagen wie 2G binden, geht es auch gar nicht, die Umsatzverluste aufzuholen. Deshalb ist auch die Diskussion über den Lebensmitteleinzelhandel berechtigt: Warum wird nur dem Non-Food-Handel diese Last aufgestülpt, wo sich doch im Supermarkt viel mehr Menschen tummeln? Im Nebeneffekt wird der Online-Handel dadurch massiv subventioniert. Der eCommerce wird auch 2022 genauso weiter wachsen. Das war kein einmaliger Corona-Effekt, sondern eine nachhaltige Stärkung des Online-Handels, die nicht mehr zurückgehen wird. Ich gehe davon aus, dass im Non-Food-Einzelhandel alle Bereiche bis 2030 mindestens 50 Prozent Online-Anteile erreichen werden, was heißt: Leerstände und Verödung der Innenstädte wird uns in den kommenden Jahren permanent begleiten.
Sie haben in dem Projekt „On4Off“daran geforscht, wie der stationäre Handel mit Online-Strategien erfolgreich sein kann. Was sind Ihre wesentlichen Erkenntnisse?
HEINEMANN Wir haben festgestellt, dass die meisten stationären Händler die Voraussetzungen gar nicht erfüllen. Sie haben keine Kundendaten, kein elektronisches Warenwirtschaftssystem. Das sind Basics, die bis heute nicht erfüllt sind bei zwei Drittel der Händler. Und für die ist das nicht nutzbar, die müssen erstmal die Voraussetzungen schaffen. Und dazu ist es wahrscheinlich zu spät. Die gute Nachricht ist: Fast alle größeren filialisierten Händler haben massiv aufgeholt. Für die ist das größte Thema aber Widerstand auf Personalseite, das haben wir auch bei unserem Konsortialpartner Pieper gesehen.
Verkäufer haben Sorge um ihren Job?
HEINEMANN Eigentlich soll es ja dem Personal helfen, aufgrund von kundendatenbasierten Informationen den Kunden bessere, individuellere und kuratierte Empfehlungen zu geben. Aber Mitarbeiter haben oft Existenzängste. Für die Händler ist dann die größte Herausforderung, den Mitarbeitern zu vermitteln, dass es sich um eine existenzsichernde Maßnahme handelt.
Sie vertreten die These: „Ein Kunde sollte im Geschäft intelligente Empfehlungen erhalten, die auch auf seinen bereits bekannten Interessen und Verhaltensmustern beruhen.“Wie kann das ein kleines Geschäft bewerkstelligen?
HEINEMANN Es gibt interessanterweise viele kleine Geschäfte, die das können, vor allem im Buchhandel. Es gibt tolle, inhabergeführte Buchhandelsläden, die das exzellent machen, auch in Mönchengladbach. Wer das aber bis heute verpennt hat, dem kann man nicht mehr helfen. Das Thema ist zu komplex, teuer und zeitintensiv. Mit digitalen Hilfen kann man jetzt keinen Händler mehr retten. Es gab genug Initiativen, jetzt ist der Zug abgefahren.
Mit anderen Worten: Es wird weiteren Rückzug des stationären Handels in den Innenstädten geben.
HEINEMANN Ja. Es wird immer exzellente stationäre Händler geben, die ohne intelligente Systeme bestehen. Aber das bleibt die Ausnahme. Der stationäre Händler braucht vier Dinge, um zu überleben: Kundendaten für die direkte Kundenansprache, qualifizierte Mitarbeiter und Digitalexperten, die die Daten organisieren und damit arbeiten können, eine durchdigitalisierte Lieferkette, und zum
Schluss muss man den stationären Laden auch noch neu erfinden.
Wie soll der aussehen?
HEINEMANN Auf den Flächen wird deutlich weniger Umsatz gemacht. Also muss man an den Kosten arbeiten, die Miete verringern, vielleicht andere Standorte finden, die Fläche verkleinern und neue Formate finden etwa den Laden als Showroom, mit mehr Selbstbedienung. Der Laden wird anders aussehen als heute und deutlich weniger kosten müssen.
Der Superbiomarkt an der Lüpertzender Straße schließt, und der Vorstand begründet dies mit folgenden Worten: „„Die innerstädtische Entwicklung in Mönchengladbach ist katastrophal. In allen Filialen wachsen wir, nur in Mönchengladbach verlieren wir an Kundenfrequenz.“Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
HEINEMANN Das hat sich seit Jahren schleichend abgezeichnet. Mönchengladbach hat zwar mehr als 260.000 Einwohner, ist aber eher eine Ansammlung vieler unabhängiger und lokalpatriotischer Mittelzentren. Wir haben einen Urkern Gladbach, das ist Bismarckstraße, Hindenburgstraße vom Markt bis zum Bahnhof, dazu ein paar Seitenstraßen. Mehr nicht. In diesem Ur-Mönchengladbach leben wahrscheinlich nicht einmal 100.000 Einwohner. Der Rest verteilt sich auf Mittelzentren: Rheydt mit 40.000 Einwohnern, Odenkirchen 17.000 Einwohner, Giesenkirchen mit 9000, Wickrath mit 17.000, Rheindahlen 18.000 Einwohner, Eicken und Neuwerk 22.000 Einwohner, Hardt und Venn 17.000 Einwohner. Da sagen alle Experten zu Chancen des innerstädtischen Einzelhandels: Nur Oberzentren mit deutlich mehr als 100.000 Einwohnern, eher mehr als 200.000 Einwohnern, haben Chancen, eigentlich sogar nur Metropolen. Mönchengladbach hat aber eine zerfledderte Innenstadt. Die Stadt muss es schaffen, den noch existierenden Einzelhandel zu konzentrieren auf die stärkste Einkaufsstraße oder den stärksten Stadtteil. Und das wäre MönchengladbachCity, und hier die Hindenburgstraße. Man kann die Hindenburgstraße als eine gute Einkaufsstraße retten, aber nur, wenn man den Einzelhandel aus den Unterzentreten konzentriert und dort ansiedelt. Alles andere ist Prinzip Hoffnung.
Was ist mit Rheydt als Einzelhandelsstandort?
HEINEMANN Es gibt in Rheydt kaum einen Filialisten mehr. Das sagt eigentlich alles. Selbst ein Leuchtturmprojekt wie ein Rathaus für 200 Millionen Euro wird Rheydt als Einkaufsstadt nicht retten. Städte müssen sich wandeln und unabhängig vom Einzelhandel machen. Anders wird es nicht gehen: Hochattraktive grüne Unterzentren und ein konzentriertes Einkaufszentrum. Aber in keiner Stadt herrscht so ein kontraproduktiver Lokalpatriotismus wie in Mönchengladbach vor. Damit blockiert Mönchengladbach seine zukünftige Neuausrichtung. Das verschlimmert die Situation.
Wie sehen Sie die Zukunft von Rheydt?
HEINEMANN Wir haben nach wie vor einen Mangel an gutem Wohnraum, den sich die breite Masse leisten kann. Da kann man in Rheydt einiges tun und die Attraktivität erhöhen durch Dienstleistungen, Sportmöglichkeiten, E-Mobilität – wenn man der Kreativität freien Raum lässt ist viel möglich.
Wie bewerten Sie die jüngst vorgestellten Planungen für die Gladbacher City mit mehr Grün, Durchstich zum Museum Abteiberg, nur noch E-Shuttle-Busse und gekappter Bismarckstraße? Können solche Entwürfe der City eine Zukunft bringen?
HEINEMANN Ich begrüße grundsätzlich alles, was getan wird. Aber das reicht nicht. Es geht nur so, wie ich das skizziert habe. Und das wird umgangen. Rheydt als Einkaufsstadt ergibt keinen Sinn. Das ist nicht zu ignorieren. Hinzu kommt: Der stationäre Einzelhandel ist insgesamt über alle Branchen hinweg ins Minus gekippt. Der zu verteilende Umsatzkuchen wird kleiner. Das Umfeld Mönchengladbachs schläft nicht: Roermond und Düsseldorf schlafen nicht und holen sich von dem kleiner werdenden Kuchen in Zukunft massiv mehr Kuchenstücke.