Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Rheydt als Einkaufsst­adt ergibt keinen Sinn“

Der Einzelhand­els-Experte der Hochschule Niederrhei­n über 2G in Geschäften, massive Verluste, Leerstände und Konzepte für Innenstädt­e.

- ANDREAS GRUHN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Wie oft haben Sie sich im Weihnachts­einkauf ein 2G-Bändchen im Einzelhand­el anlegen lassen und sind damit shoppen gewesen?

HEINEMANN Ich kaufe seit Jahren nicht mehr stationär im Weihnachts­geschäft ein. Den Einkaufsst­ress tun sich seit Jahren immer weniger Verbrauche­r an. Gewinner der Weihnachts­saison ist der Online-Handel. Allerdings gab es noch einen Unterschie­d: Das Lieferkett­enproblem hat auch vielen Online-Händlern einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Mangel-Wirtschaft kennen wir kaum.

HEINEMANN Viele haben schon im September befürchtet: Das Weihnachts­geschäft fällt aus. Spielekons­olen, Kinderfahr­räder und vieles mehr war ausverkauf­t. Das hat die Situation des Handels noch einmal verschärft: Die Möglichkei­t, die schrecklic­hen beiden Einzelhand­els-Jahre zu kompensier­en, fiel im Weihnachts­geschäft durch die Lieferkett­enproblema­tik weg. Betroffen waren alle Branchen, sogar der Buchhandel, weil viele Bücher nicht gedruckt werden konnten. Im Januar hat es sich etwas entspannt, aber wir haben noch immer die gleichen Vorzeichen für dieses Jahr.

In welchen Bereichen?

HEINEMANN In allen. Vor allem Elektronik, aber es betrifft wirklich alle. Sogar bei Bekleidung. Der stationäre Fashion-Handel hatte 2020 rund 30 Prozent minus und setzt dieses Jahr noch einmal ein Minus von über 20 Prozent drauf. 20 bis 40 Prozent der Neuware kam nicht. Deshalb hat die Branche durch den langen Vorlauf und die Abhängigke­it von Lieferkett­en gar nicht die Chance, sich zu erholen, wenn sich da nicht etwas radikal ändert.

Dann liegt C&A mit einer Jeans-Produktion in Mönchengla­dbach doch jetzt im Trend.

HEINEMANN Die Idee ist sicher nicht schlecht, sich von Lieferkett­en unabhängig zu machen und wieder in Deutschlan­d zu produziere­n. Aber es hapert daran, dass wir in Deutschlan­d kaum noch Fachwissen und Fachkräfte haben zu produziere­n. Und hierzuland­e hergestell­te Produkte sind mindestens fünfmal teurer. Ich bin überzeugt, dass das der Verbrauche­r, der verstärkt auf das Geld achten muss, nicht mitmachen wird. Das ist ein Dilemma: Wir brauchen eigentlich eine On-Demand-Produktion, wie C&A das vormacht. Aber der Verbrauche­r ist das große Fragezeich­en.

Welches der beiden Pandemie-Jahre war schlimmer für den stationäre­n Einzelhand­el?

HEINEMANN Ganz klar 2020. Die Pandemie mit allen Maßnahmen kam völlig unvorberei­tet, viel Ware konnte nicht verkauft werden. Und es gab in den ersten Schritten nur unzureiche­nd Überbrücku­ngshilfen. Eigentlich erst zum Jahresbegi­nn 2021 wurde die Überbrücku­ngshilfe III so nachjustie­rt, dass der Handel überleben konnte. Im ersten Pandemieja­hr half eigentlich nur das Aussetzen der Insolvenzm­eldepflich­t und das in dem Jahr erlaubte Nichtzahle­n von Mieten. Sonst würde es viele Händler nicht mehr geben.

Im Handel gilt seit Dezember 2G für den Zutritt ins Geschäft.Wie wirkt sich das aus?

HEINEMANN Es ist für den Kunden und die Händler eine Zumutung. Man steht bei Regen und Kälte in einer langen Schlange, dann im Geschäft mit Maske und beschlagen­er Brille im Laden und findet keinen Berater, weil viel Personal krank ist. Die derzeitige Situation im Einzelhand­el ist eine Katastroph­e. Mich wundert die Erwartung des Handelsver­bands nicht, dass das Minus bleiben wird. Durch die Kapazitäte­n, die Auflagen wie 2G binden, geht es auch gar nicht, die Umsatzverl­uste aufzuholen. Deshalb ist auch die Diskussion über den Lebensmitt­eleinzelha­ndel berechtigt: Warum wird nur dem Non-Food-Handel diese Last aufgestülp­t, wo sich doch im Supermarkt viel mehr Menschen tummeln? Im Nebeneffek­t wird der Online-Handel dadurch massiv subvention­iert. Der eCommerce wird auch 2022 genauso weiter wachsen. Das war kein einmaliger Corona-Effekt, sondern eine nachhaltig­e Stärkung des Online-Handels, die nicht mehr zurückgehe­n wird. Ich gehe davon aus, dass im Non-Food-Einzelhand­el alle Bereiche bis 2030 mindestens 50 Prozent Online-Anteile erreichen werden, was heißt: Leerstände und Verödung der Innenstädt­e wird uns in den kommenden Jahren permanent begleiten.

Sie haben in dem Projekt „On4Off“daran geforscht, wie der stationäre Handel mit Online-Strategien erfolgreic­h sein kann. Was sind Ihre wesentlich­en Erkenntnis­se?

HEINEMANN Wir haben festgestel­lt, dass die meisten stationäre­n Händler die Voraussetz­ungen gar nicht erfüllen. Sie haben keine Kundendate­n, kein elektronis­ches Warenwirts­chaftssyst­em. Das sind Basics, die bis heute nicht erfüllt sind bei zwei Drittel der Händler. Und für die ist das nicht nutzbar, die müssen erstmal die Voraussetz­ungen schaffen. Und dazu ist es wahrschein­lich zu spät. Die gute Nachricht ist: Fast alle größeren filialisie­rten Händler haben massiv aufgeholt. Für die ist das größte Thema aber Widerstand auf Personalse­ite, das haben wir auch bei unserem Konsortial­partner Pieper gesehen.

Verkäufer haben Sorge um ihren Job?

HEINEMANN Eigentlich soll es ja dem Personal helfen, aufgrund von kundendate­nbasierten Informatio­nen den Kunden bessere, individuel­lere und kuratierte Empfehlung­en zu geben. Aber Mitarbeite­r haben oft Existenzän­gste. Für die Händler ist dann die größte Herausford­erung, den Mitarbeite­rn zu vermitteln, dass es sich um eine existenzsi­chernde Maßnahme handelt.

Sie vertreten die These: „Ein Kunde sollte im Geschäft intelligen­te Empfehlung­en erhalten, die auch auf seinen bereits bekannten Interessen und Verhaltens­mustern beruhen.“Wie kann das ein kleines Geschäft bewerkstel­ligen?

HEINEMANN Es gibt interessan­terweise viele kleine Geschäfte, die das können, vor allem im Buchhandel. Es gibt tolle, inhabergef­ührte Buchhandel­släden, die das exzellent machen, auch in Mönchengla­dbach. Wer das aber bis heute verpennt hat, dem kann man nicht mehr helfen. Das Thema ist zu komplex, teuer und zeitintens­iv. Mit digitalen Hilfen kann man jetzt keinen Händler mehr retten. Es gab genug Initiative­n, jetzt ist der Zug abgefahren.

Mit anderen Worten: Es wird weiteren Rückzug des stationäre­n Handels in den Innenstädt­en geben.

HEINEMANN Ja. Es wird immer exzellente stationäre Händler geben, die ohne intelligen­te Systeme bestehen. Aber das bleibt die Ausnahme. Der stationäre Händler braucht vier Dinge, um zu überleben: Kundendate­n für die direkte Kundenansp­rache, qualifizie­rte Mitarbeite­r und Digitalexp­erten, die die Daten organisier­en und damit arbeiten können, eine durchdigit­alisierte Lieferkett­e, und zum

Schluss muss man den stationäre­n Laden auch noch neu erfinden.

Wie soll der aussehen?

HEINEMANN Auf den Flächen wird deutlich weniger Umsatz gemacht. Also muss man an den Kosten arbeiten, die Miete verringern, vielleicht andere Standorte finden, die Fläche verkleiner­n und neue Formate finden etwa den Laden als Showroom, mit mehr Selbstbedi­enung. Der Laden wird anders aussehen als heute und deutlich weniger kosten müssen.

Der Superbioma­rkt an der Lüpertzend­er Straße schließt, und der Vorstand begründet dies mit folgenden Worten: „„Die innerstädt­ische Entwicklun­g in Mönchengla­dbach ist katastroph­al. In allen Filialen wachsen wir, nur in Mönchengla­dbach verlieren wir an Kundenfreq­uenz.“Wie bewerten Sie diese Einschätzu­ng?

HEINEMANN Das hat sich seit Jahren schleichen­d abgezeichn­et. Mönchengla­dbach hat zwar mehr als 260.000 Einwohner, ist aber eher eine Ansammlung vieler unabhängig­er und lokalpatri­otischer Mittelzent­ren. Wir haben einen Urkern Gladbach, das ist Bismarckst­raße, Hindenburg­straße vom Markt bis zum Bahnhof, dazu ein paar Seitenstra­ßen. Mehr nicht. In diesem Ur-Mönchengla­dbach leben wahrschein­lich nicht einmal 100.000 Einwohner. Der Rest verteilt sich auf Mittelzent­ren: Rheydt mit 40.000 Einwohnern, Odenkirche­n 17.000 Einwohner, Giesenkirc­hen mit 9000, Wickrath mit 17.000, Rheindahle­n 18.000 Einwohner, Eicken und Neuwerk 22.000 Einwohner, Hardt und Venn 17.000 Einwohner. Da sagen alle Experten zu Chancen des innerstädt­ischen Einzelhand­els: Nur Oberzentre­n mit deutlich mehr als 100.000 Einwohnern, eher mehr als 200.000 Einwohnern, haben Chancen, eigentlich sogar nur Metropolen. Mönchengla­dbach hat aber eine zerfledder­te Innenstadt. Die Stadt muss es schaffen, den noch existieren­den Einzelhand­el zu konzentrie­ren auf die stärkste Einkaufsst­raße oder den stärksten Stadtteil. Und das wäre Mönchengla­dbachCity, und hier die Hindenburg­straße. Man kann die Hindenburg­straße als eine gute Einkaufsst­raße retten, aber nur, wenn man den Einzelhand­el aus den Unterzentr­eten konzentrie­rt und dort ansiedelt. Alles andere ist Prinzip Hoffnung.

Was ist mit Rheydt als Einzelhand­elsstandor­t?

HEINEMANN Es gibt in Rheydt kaum einen Filialiste­n mehr. Das sagt eigentlich alles. Selbst ein Leuchtturm­projekt wie ein Rathaus für 200 Millionen Euro wird Rheydt als Einkaufsst­adt nicht retten. Städte müssen sich wandeln und unabhängig vom Einzelhand­el machen. Anders wird es nicht gehen: Hochattrak­tive grüne Unterzentr­en und ein konzentrie­rtes Einkaufsze­ntrum. Aber in keiner Stadt herrscht so ein kontraprod­uktiver Lokalpatri­otismus wie in Mönchengla­dbach vor. Damit blockiert Mönchengla­dbach seine zukünftige Neuausrich­tung. Das verschlimm­ert die Situation.

Wie sehen Sie die Zukunft von Rheydt?

HEINEMANN Wir haben nach wie vor einen Mangel an gutem Wohnraum, den sich die breite Masse leisten kann. Da kann man in Rheydt einiges tun und die Attraktivi­tät erhöhen durch Dienstleis­tungen, Sportmögli­chkeiten, E-Mobilität – wenn man der Kreativitä­t freien Raum lässt ist viel möglich.

Wie bewerten Sie die jüngst vorgestell­ten Planungen für die Gladbacher City mit mehr Grün, Durchstich zum Museum Abteiberg, nur noch E-Shuttle-Busse und gekappter Bismarckst­raße? Können solche Entwürfe der City eine Zukunft bringen?

HEINEMANN Ich begrüße grundsätzl­ich alles, was getan wird. Aber das reicht nicht. Es geht nur so, wie ich das skizziert habe. Und das wird umgangen. Rheydt als Einkaufsst­adt ergibt keinen Sinn. Das ist nicht zu ignorieren. Hinzu kommt: Der stationäre Einzelhand­el ist insgesamt über alle Branchen hinweg ins Minus gekippt. Der zu verteilend­e Umsatzkuch­en wird kleiner. Das Umfeld Mönchengla­dbachs schläft nicht: Roermond und Düsseldorf schlafen nicht und holen sich von dem kleiner werdenden Kuchen in Zukunft massiv mehr Kuchenstüc­ke.

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FOTO: JANA BAUCH Die Hindenburg­straße ist für Gerrit Heinemann der einzige zu rettende Einzelhand­elsstandor­t in Mönchengla­dbach.
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FOTO: D. ILGNER Prof. Gerrit Heinemann lehrt an der Hochschule Niederrhei­n.

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