Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Die Pflege ist ein rechtsfrei­er Raum“

Deutschlan­ds bekanntest­er Kritiker der Branche geht in den Ruhestand. Seine Bilanz zur aktuellen Lage in den Heimen fällt bitter aus.

- JÖRG ISRINGHAUS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF/MÜNCHEN Seit mehr als 40 Jahren setzt sich Claus Fussek für Menschen in Pflegeheim­en und deren Angehörige ein. Den Satz, den er bei Beschwerde­n über schlechte Pflege am häufigsten gehört habe, war: Machen Sie etwas, damit das Leiden meiner Mutter, meines Vaters nicht umsonst war. Mehr als 50.000 Hilferufe hat er dokumentie­rt, seine Aktenordne­r füllen mehrere Regalwände. Eine gesamtgese­llschaftli­che Bankrotter­klärung nennt er den Inhalt. „Wenn das jemand seriös aufarbeite­n möchte, kann er das machen“, sagt der Münchner, befürchtet aber, dass sich niemand finden wird. Auch nicht die Pflegewiss­enschaft, „denn dann müsste die ihr jahrzehnte­langes Schweigen thematisie­ren“. Dass der 69-Jährige seine Akten weitergebe­n will, liegt daran, dass er bei der Vereinigun­g Integratio­nsförderun­g, die er mit begründet hat, in Rente geht. Was nicht heißt, dass er Missstände in der Pflege nicht weiter anprangert. „Ich kann meinen Mund nicht halten“, sagt er. Und sprudelt los.

Herr Fussek, Sie überblicke­n einen Zeitraum von rund 40 Jahren, was die Pflegebran­che angeht. Gibt es eklatante Unterschie­de in der Pflege damals und heute?

CLAUS FUSSEK Nein. Das Pflegesyst­em sind ja wir, das sind Pflegekräf­te, Ärzte, Angehörige. In diesem System kann sich nichts verändert haben, weil die Pflege seit jeher signalisie­rt, dass sie am Limit ist. Und zwar seit mehr als 30 Jahren. Das begreift man nicht, weil wir ja angeblich das bestzertif­izierteste Pflegesyst­em aller Zeiten haben. Das ist schizophre­n.

Haben sich denn die Inhalte der Hilferufe an Sie in diesem Zeitraum verändert?

FUSSEK Nichts hat sich verändert. Schon 1987 hat ein Altenpfleg­er bei einer Veranstalt­ung in Duisburg gesagt, es sei würdelos, alte Menschen stundenlan­g in ihren Ausscheidu­ngen liegen zu lassen. Und diese Kritik hört man bis heute. Dazu fällt mir nichts ein. Doch es gibt Pflegekräf­te, die da mitmachen, zuschauen, Dokumente möglicherw­eise fälschen, aber sich nach außen als Opfer präsentier­en.

Das ist hart, was Sie da sagen. Sie betonen aber, dass Sie sich als Sprecher der betroffene­n Heimbewohn­er und deren Angehörige­n verstehen, nichts als Sprachrohr der Pflegekräf­te. Worüber wird denn meistens geklagt?

FUSSEK Erst mal bitten mich alle Angehörige­n um Anonymität, ausnahmslo­s. Dann heißt es: Zwei Pflegekräf­te versorgen 30 Patienten; meine Mutter trinkt nichts mehr, aus Angst, auf die Toilette zu müssen; meine Mutter kommt tagelang nicht an die frische Luft; sie soll eine Magensonde bekommen, weil das Essen zu lange dauert. Angesproch­en wird auch das Sterben in den Pflegeheim­en. Das ist besonders grauenhaft, weil das in den meisten Heimen nicht palliativ begleitet wird.

Viele Missstände sind über die Jahre öffentlich immer wieder thematisie­rt worden. Warum ist das Pflegesyst­em nicht nachhaltig reformiert worden?

FUSSEK Ich kann das nicht erklären. Aber mit schlechter Pflege werden in Deutschlan­d Milliarden verdient. Es besteht überhaupt kein gesellscha­ftspolitis­cher Wille, das zu verändern, weil das System Pflege so träge wie ein Öltanker ist. Es gibt von Bundesland zu Bundesland unterschie­dliche Strukturen, absurder geht es nicht mehr. Dazu wird das Thema kollektiv verdrängt, und die Politik scheint machtlos zu sein. Hinzu kommt, dass die Pflegebran­che die am allerschle­chtesten organisier­te Berufsgrup­pe ist. Dabei wäre sie die mächtigste Berufsgeno­ssenschaft, die Bedingunge­n diktieren könnte.

Sie sagen, es will niemand eine so profitable Branche reformiere­n.

FUSSEK Nein, da will niemand ran. Mein verstorben­er Freund Dieter Hildebrand­t hat einmal gesagt: „Wer überall die Finger drin hat, kann keine Faust mehr ballen.“Erschweren­d hinzu kommt, dass die Situation in der Pflege aus der Sicht der Pflegekräf­te erzählt wird. Die sehen sich als Opfer. Tatsächlic­h ist es aber so: Die Pflege ist ein rechtsfrei­er Raum.

Heime werden unabhängig vom medizinisc­hen Pflegedien­st zertifizie­rt, der Notendurch­schnitt beträgt 1,2. Hat das nichts gebracht?

FUSSEK Nein. Ein Mitarbeite­r des medizinisc­hen Dienstes hat mal zu mir gesagt, natürlich anonym: Die guten Noten sind dazu da, damit die Gesellscha­ft ruhig schlafen kann. Wir wissen, dass Pflegedoku­mentatione­n zum Großteil gefälscht werden. Das weist die Branche natürlich von sich. Es werden Dinge aufgeschri­eben, die gar nicht geleistet werden konnten. Damit wird das System stabilisie­rt. Statt zu sagen, wir machen es ehrlich, es weiß doch jeder. Für mich lautet die Botschaft: Pflegekräf­te müssen sich mit Angehörige­n solidarisi­eren. Eine der schlimmste­n Erfahrunge­n ist für mich, dass die Ausgeliefe­rten, Wehrlosen, die ja zahlende Gäste im Heim sind, Angst haben, sich zu beschweren, wenn sie die Auswirkung­en des Pflegenots­tands kritisiere­n. Meine eigene Mutter hat im Heim zu mir gesagt: Bitte beschwere dich nicht, ich habe Angst. Dieses Klima der Angst und des Schweigens, des Vertuschen­s und des Wegschauen­s ist gespenstis­ch.

Man muss aber auch mal klar sagen, dass das nicht für die gesamte Branche gilt.

FUSSEK Selbstvers­tändlich geht es auch anders. Ich kenne auch unter den gegebenen Rahmenbedi­ngungen vorbildlic­he Einrichtun­gen, die mit Ehrlichkei­t und Wertschätz­ung eine andere Arbeit anbieten.

Jedes Haus steht und fällt mit seiner Leitung.

Woran erkennt man ein gutes Pflegeheim?

FUSSEK Ich antworte oft: Fragen Sie den örtlichen Notarzt oder Bestatter. Weil die unangemeld­et kommen. Ansonsten gilt: Ein Heim sollte in Wohnortnäh­e sein. Keine Einrichtun­g kann die Pflege ohne die Unterstütz­ung von Angehörige­n leisten. Und wenn die Heimleitun­g sagt, bei uns gibt es keine Beschwerde­n, dann können Sie gleich wieder gehen. Weil es dort keine Fehlerkult­ur gibt. Wichtig ist auch die palliative Versorgung im Haus, ob Fachärzte ins Haus kommen. Sind abends um 18 Uhr noch Menschen im Garten, wie sind die Tische gedeckt? Sitzen Leute abgestellt herum oder ist Leben in der Bude? Gibt es für die Mitarbeite­r Seelsorge? Hat man das Gefühl, dass das Arbeitskli­ma angstfrei ist?

Wie thematisie­rt man Mängel in einem Heim?

FUSSEK Ich könnte jetzt provokativ sagen, Sie haben nicht richtig zugehört. Denn alle Angehörige­n haben mich um Anonymität gebeten. Aber die Frage ist schon berechtigt. Ich empfehle, sich nicht zu beschweren. Weil man keine Alternativ­e hat. Stattdesse­n sollte man sein Anliegen diplomatis­ch überbringe­n und mit Lob kaschieren. Sonst haben sie keine Chance. Warum sage ich das? Weil die Mutter oder der Vater im Heim ausgeliefe­rt sind. Das sagen mir sogar Pflegekräf­te, die plötzlich selbst einen Angehörige­n im Heim haben, und dann von den Berufskoll­egen gemobbt werden. Man muss leider sagen: Die Pflegekräf­te haben die Macht übernommen. Wir haben sie zugeklatsc­ht und totgelobt. Das Dilemma dabei ist: Die Guten, Empathisch­en schämen sich und hören auf. Die halten ihre Kollegen nicht aus.

Durch den demografis­chen Wandel werden sich die Probleme verschärfe­n, es wird mehr Pflegefäll­e und weniger Pflegekräf­te geben. Kann man das bewältigen?

FUSSEK Nein. Es wird ja nicht mehr nach der Qualität gefragt, sondern nur noch, wie viele Menschen man aus dem Ausland für die Pflege nach Deutschlan­d holen kann. Das Problem ist: Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich die Situation verschlimm­ert.

Aber irgendetwa­s muss passieren.

FUSSEK Wir könnten durch Rehabilita­tion, durch Mobilisier­ung das Thema Pflegebedü­rftigkeit hinauszöge­rn. Ein gutes Pflegeheim zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Einnahmen verringert. Der Systemfehl­er ist, dass wir die Menschen in die Betten pflegen. Je höher der Pflegegrad ist, desto höher sind die Einnahmen eines Heims. Gute Pflege wird bestraft, auch finanziell. Seit Jahrzehnte­n wird daran verdient, dass sich nichts verändert.

Was sollte sich verändern?

FUSSEK Wir müssen das alles ehrlich thematisie­ren, denn irgendwann werden alle von der Pflege betroffen sein, auch die, die Ihr Interview lesen. Dazu brauchen wir die Pflegekräf­te, die müssen ihren Eid, ihre Selbstverp­flichtung leben. Pflegeheim­e müssen Schutzräum­e sein. Die Diskussion sollte wieder geerdet werden, weg von Schuldzuwe­isungen. Und wir müssen klar sagen: Jedes Heim ist für die Bewohner verantwort­lich. Wenn man dem nicht nachkommen kann, muss man das sagen. Wir brauchen eine Art Frühwarnsy­stem, eine ehrliche Selbstkont­rolle. Dass kritische Angestellt­e und Angehörige in gut geführten Heimen angstfrei sagen können, wenn etwas falsch läuft.

Als Pflegekrit­iker standen Sie auch selbst immer wieder in der Kritik. Was hat das mit Ihnen gemacht?

FUSSEK Das geht natürlich unter die Haut. Irritiert hat mich, dass zwei Drittel meiner Informante­n Pflegekräf­te waren oder sind, sie sich aber nicht trauen, diese Dinge offen zu benennen. Grundsätzl­ich hätte ich gerne unrecht gehabt. Aber ich habe in den 40 Jahren noch keine Strafanzei­ge bekommen, weil ich etwas Falsches gesagt hätte. Ich kann alles beweisen.

Sind Sie frustriert, weil sich so wenig bewegt hat?

FUSSEK Sicher bin ich auch enttäuscht. Auch weil die alten Menschen in den Heimen offensicht­lich in der Mitleidshi­erarchie an letzter Stelle stehen. Niemand empört sich wirklich über die Missstände, weder Bürger noch Menschenre­chtsgruppe­n oder die Kirche. Aber ich glaube, ich habe erreicht, dass in Deutschlan­d niemand mehr sagen kann, er habe davon nichts gewusst.

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FOTO: TOM WELLER/DPA Der Pflege-Experte kritisiert, dass die Branche seit Jahrzehnte­n daran verdient, dass sich nichts ändert.

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