Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Der Zauber der ersten Zeilen
Zum Welttag des Buches stellen wir ein Literaturrätsel – mit Romananfängen von sieben deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgern.
Jeder, der schreibt oder liest oder sich sonstwie mit Literarischem beschäftigt, begegnet diesem Phänomen mit jedem neuen Buch: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das ist ein Vers aus jenem Gedicht, das bei fast jeder Umfrage zum Lieblingsgedicht der Deutschen gewählt wird: aus „Stufen“von Hermann Hesse. Und Hugo von Hofmannsthal gab zu bedenken, dass in jedem Anfang die Ewigkeit liegt. Anfänge, so scheint es doch, verheißen vieles. Aber leider gilt eben auch das: Aller Anfang ist schwer!
Aber warum diese Anfangszeilen über Anfänge? Weil wir zum Welttag des Buches Ihnen gerne ein Literaturrätsel mit lauter Anfängen stellen wollen. Die sieben hier abgedruckten Buchanfänge stammen aus der Feder deutschsprachiger Literaturnobelpreisträger, manche sind berühmten Werken entnommen, andere weniger bekannten Büchern. Bei den Autoren hatten wir die Qual der Wahl, die Entscheidung fiel dann auf diese sieben – in alphabetischer Reihenfolge: Heinrich Böll (1917– 1985), Elias Canetti (1905–1994), Rudolf Eucken (1846–1926), Günter Grass (1927–2015), Elfriede Jelinek (geboren 1946), Thomas Mann (1875–1955) und Herta Müller (geboren 1953).
Ein berühmter Roman, dessen Anfang hier abgedruckt wird, beginnt noch mit einem „Vorsatz“des Autors. Und der endet mit einer ziemlich großen Versprechung: „Und somit fangen wir einfach an.“Und genau das wollen wir an dieser Stelle mit den sieben Anfängen jetzt auch beherzigen.
Text 1
„Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt.“
Text 2
„Ein einfacher junger Mann reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach DavosPlatz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen. Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten.“
Text 3
„Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: alles Meinige trage ich mit mir. Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. Es war entweder zweckentfremdet oder von jemand anderem. Der Schweinslederkoffer war ein Grammophon-Kistchen. Der Staubmantel war vom Vater. Der städtische Mantel mit dem Samtbündchen am Hals vom Großvater. Die Pumphose von meinem Onkel Edwin. Die ledernen Wickelgamaschen vom Nachbarn, dem Herrn Carp. Die grünen Wollhandschuhe von meiner Fini-Tante. Nur der weinrote Seidenschal und das Necessaire waren das Meinige, Geschenke von den letzten Weihnachten.“
Text 4
„Was tust du hier, mein Junge?“„Nichts.“„Warum stehst du dann da?“„So.“„Kannst du schon lesen?“„Oh ja.“„Wie alt bist du?“„Neun vorüber.“„Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?“„Ein Buch.“
Text 5
„Vorhängeschleier spannen sich zwischen der Frau in ihrem Gehäuse und den übrigen, die auch Eigenheime und Eigenheiten besitzen. Die Armen, auch sie haben ihre Wohnsitze, in denen ihre freundlichen Gesichter zusammengefasst sind, nur das immer gleiche scheidet sie. In dieser Lage schlafen sie ein: indem sie auf ihre Verbindungen zum Direktor hinweisen, der, atmend, ihr ewiger Vater ist. Dieser Mann, der ihnen die Wahrheit ausschenkt wie seinen Atem, so selbstverständlich regiert er, der hat gerade genug von den Frauen, dass er mit lauter Stimme herumschreit, er brauche nur diese eine, die seine. Er ist unwissend wie die Bäume ringsum.“
Text 6
„Ostfriesland, meine Heimat, ist von kleinem Umfange, aber es hat eigentümliche Züge, und es hat dem deutschen Leser manches geleistet. Zwischen der Nordsee, Holland, dem Herzogtum Arenberg mit seinen strengen katholischen Einwohnern, und Oldenburg gelegen, ist es vorwiegend auf sich selbst angewiesen. Die ganzen Jahrhunderte hatten einen harten Kampf gegen das milde Meer zu führen, und zerstörende Sturmfluten leben dauernd in der Erinnerung der Bevölkerung fort.“
Text 7 „An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.“