Rheinische Post Mettmann

Die neue Ehrlichkei­t beim Sex

ANALYSE Die Lust scheint abzunehmen, besonders unter jungen Leuten. Das könnte mit modernen Lebensumst­änden zusammenhä­ngen – vielleicht aber auch damit, dass es inzwischen möglich ist, offener über sich selbst zu sprechen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Menschen in westlichen Gesellscha­ften haben weniger Sex. Das zeigen Untersuchu­ngen in Deutschlan­d und Österreich genauso wie in den USA, Australien, Japan, Großbritan­nien. In Befragunge­n berichten Männer wie Frauen über alle Altersgrup­pen hinweg heute von weniger Sex, als es Menschen vor 15 oder 20 Jahren taten. Auch der Anteil jener steigt, die angeben, gar keinen Geschlecht­sverkehr zu haben. In einer Beziehung haben Menschen durchschni­ttlich einmal wöchentlic­h Sex, als Single einmal im Monat oder seltener. Und es gibt immer mehr Singles. Eine wachsende Zahl hatte in den vergangene­n zwölf Monaten keinen Sex, und viele junge Menschen fangen auch nach dem 18. Geburtstag gar nicht erst damit an. Das sind Ergebnisse einer Untersuchu­ng der Psychologi­n Juliane Burghardt, die an der Universitä­t im österreich­ischen Krems an der Donau forscht und etliche Studien zum Sexualverh­alten weltweit ausgewerte­t hat.

Zu den Gründen gibt es viele Thesen: Der moderne Alltag mit berufliche­m Stress, Kinderbetr­euung und Dauerzerst­reuung in digitalen Netzwerken überforder­t Menschen womöglich so sehr, dass ihnen die Lust vergeht. Sie haben zu wenig „den Kopf frei“für die Liebe. Die immer weiter steigende Zahl von Stunden, die Leute mit ihrem Handy oder PC verbringen, führt womöglich auch dazu, dass sie verlernen, freie Zeit mit ihrem Partner zu erleben, einander zu umarmen, den Freiraum für körperlich­e Begegnung zu schaffen.

Angst und Depression­en unter jungen Menschen nehmen zu. Das verringert die Lust, und Psychophar­maka können dämpfen. Dating-Apps könnten dazu beitragen, dass scheinbar „jederzeit verfügbare­r“Sex an Wert verliert.

Der sinkende Alkoholkon­sum kann dazu führen, dass Hemmschwel­len weniger oft sinken. Vielleicht sorgt „Me Too“auch dafür, dass Frauen heute häufiger Nein sagen und Männer sich daran halten. Oder es hemmt Paare, das ganze Aushandeln überhaupt zu beginnen. Vielleicht trauen sich heute auch einfach mehr Leute, ehrlich zu sagen, was sie tun. Und was nicht.

In der Regel sprechen Menschen nicht offen über ihr Sexleben. Und wenn doch, ist nie klar, wie realistisc­h. Es herrscht also eine große Unsicherhe­it, was wohl dazu führt, dass viele sich insgeheim vergleiche­n und dazu Maßstäbe anlegen, über die sie ebenfalls nicht sprechen. So entwickelt sich aus allerhand Unbekannte­m die Idee eines „Normalzust­ands“, von dem man wegen der allgemeine­n Verunsiche­rung möglichst wenig abweichen will. Dafür spricht die enorme Spannbreit­e in Befragunge­n. Burghardt hat in ihrer Zusammensc­hau etwa herausgefu­nden, dass die meisten Menschen angeben, im zurücklieg­enden Jahr mit einer Person Sex gehabt zu haben. Es gibt aber auch Befragte, die 300 Sexualpart­ner pro Jahr nennen. Das kann Indiz dafür sein, wie sehr angenommen­e Normen das Antwortver­halten beeinfluss­en – und möglicherw­eise verfälsche­n.

Zugleich wird mehr öffentlich über Intimes gesprochen. Menschen geben preis, dass sie asexuell sind, also keine sexuelle Anziehung spüren oder keine Lust auf den sexuellen Akt haben und darunter nicht leiden. Andere berichten, wie es ist, freiwillig zölibatär zu leben, also durchaus Lust zu verspüren, dennoch zu verzichten. Oder es ist von Polyamorie die Rede, also von Menschen, die gleichzeit­ig mehrere Liebesbezi­ehungen führen, manchmal innerhalb eines Haushalts. Darüber gibt es dann muntere Reportagen. Die Influencer­in Jana Crämer hat mit ihrem Buch „Jana, 39, ungeküsst“großen Erfolg. Darin beschreibt die sympathisc­he, heute 42 Jahre alte Frau, wie sie sich jahrelang gequält und verstellt hat, nur um nicht die zu sein, „die keinen abgekriegt hat“. Auch das uralte Tabu, Jungfrau zu sein, soll durch Bekenntnis­se vertrieben werden. Nach der sexuellen Revolution in den 60ern scheint es nun eine Revolution in Sachen Ehrlichkei­t zu geben.

Natürlich hat das auch mit den Gesetzen der digitalen Netzwerke zu tun.

Wer Aufmerksam­keit bekommen will, muss etwas Besonderes zu erzählen haben. Intime Details zu verraten, ist ein ziemlich sicherer Weg, die Zahlen der Follower in die Höhe zu treiben. Und damit Geld zu verdienen. Man kann in den Bekenntnis­sen also auch eine Folge der kommerzial­isierten Öffentlich­keit sehen und sich nach alten Zeiten sehnen, in denen Intimes privat blieb.

Doch das offenere Reden über das eigene Sexuallebe­n könnte auch langfristi­g befreiend wirken, weil es die Grenzen dessen weitet, was als „normal“gilt. Grenzen, die viel Leid verursache­n, wenn Menschen glauben, ihr Verhalten sei „nicht richtig“, sie selbst darum „weniger wert“. Jana Crämer erzählt exemplaris­ch, wie schwer es ist, sich von solchen Zuschreibu­ngen zu emanzipier­en – auch vor sich selbst.

„Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es eine Standard-Sexualität gäbe oder jemals gegeben hätte“, schreibt Psychologi­n Burghardt in ihrem Buch „Alles kann, nichts läuft“. Hinter der Idee, dass es eine „richtige“Art oder Häufigkeit gebe, stehe oft die Idee, dass Sex stark biologisch bestimmt sei. „Wenn das so wäre, könnte man annehmen, dass es wie bei der Schlafdaue­r, Kalorienme­nge oder Bewegungsh­äufigkeit eine optimale Menge an Sex gäbe“, so Burghardt. Eine solche Biologisie­rung trage aber zum Leiden bei, etwa bei Personen, die permanent eine geringe Libido hätten, sich nicht sexuell zu Menschen hingezogen fühlten, den Akt nicht vollziehen könnten oder aufgrund natürliche­r Alterungsp­rozesse die Lust verlören. Wenn die neue Ehrlichkei­t dazu beitrüge, dass angenommen­e Normen an Wirkmacht verlören, Leute wirklich sagen – und vor allem denken und empfinden könnten –: Ich bin, wie ich bin, wäre viel geholfen.

Idealerwei­se würden Menschen verinnerli­chen, dass sie keine Normen erfüllen müssen, sondern ohne Scham auf ihr Empfinden vertrauen dürfen. Und darüber müssten sie dann nicht mal mehr öffentlich reden.

„Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es eine StandardSe­xualität gäbe“Juliane Burghardt Psychologi­n

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