Rheinische Post Mettmann

Ein Karlspreis gegen Judenhass

- VON DAVID GRZESCHIK

AACHEN Im Frühjahr 2022 fällte Pinchas Goldschmid­t die schwerste Entscheidu­ng seines Lebens. Der heute 60-Jährige war damals Oberrabbin­er in Moskau. Doch mit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine geriet er unter Druck, weil er den Angriff nicht unterstütz­te. Schweren Herzens entschied er sich dazu, seine Gemeinde und Russland zu verlassen. So erzählt es Goldschmid­t heute. Er sagt, dass Russland Krieg gegen das eigene Volk, gegen Europa, gegen Freiheit und Demokratie führe.

In Anerkennun­g „seines herausrage­nden Wirkens für den Frieden, die Selbstbest­immung der Völker und die europäisch­en Werte“wurde Goldschmid­t an Christi Himmelfahr­t nun mit dem Aachener Karlspreis geehrt. Mit ihm erhielten die Auszeichnu­ng auch alle jüdischen Gemeinscha­ften in Europa. Das Karlspreis­direktoriu­m erklärte, man wolle mit der Verleihung das „Signal setzen, dass jüdisches Leben selbstvers­tändlich zu Europa gehört“.

In seiner Rede vor Hunderten geladenen Gästen im Aachener Rathaus beklagte Goldschmid­t, dass gerade das aber nicht der Fall sei. „Jüdisches Leben ist eben nicht selbstvers­tändlich, und in Europa ist viel Platz für Antisemiti­smus“, sagte er. Juden müssten um ihre Sicherheit bangen und könnten nicht in Freiheit leben. Zwar täten die deutsche und andere europäisch­e Regierunge­n viel, um Antisemiti­smus zu bekämpfen. Doch das reiche nicht.

Der Rabbiner warb um Solidaritä­t mit Israel und den jüdischen Gemeinden weltweit, übte aber auch Kritik an der heutigen israelisch­en Regierung mit „rechtsradi­kalen Regierungs­mitglieder­n“. Die Hamas im Gazastreif­en forderte er auf, die israelisch­en Geiseln freizulass­en.

Eine große Gefahr für Juden gehe zudem vor der iranischen Regierung in Teheran aus, sagte der Preisträge­r. Die Auszeichnu­ng verpflicht­e ihn, seine Arbeit „noch stärker fortzusetz­en“: Goldschmid­t ist auch Präsident der Konferenz der europäisch­en Rabbiner, in der mehr als 700 Rabbiner vertreten sind.

Vizekanzle­r Robert Habeck (Grüne), der die Festrede hielt, würdigte den Rabbiner unter anderem als Mitgründer des europäisch­en Muslim-Jewish Leadership Council. In ihm sitzen jüdische und muslimisch­e Würdenträg­er, die sich für religiösen Frieden und eine Vertiefung des Dialogs zwischen Juden und Muslimen einsetzen. Habeck beklagte, Antisemiti­smus sei „tief ins zivilisier­te Europa eingeschri­eben“. Die Entscheidu­ng des Karlspreis­direktoriu­ms würdigte er als „Zeichen dafür, dass jüdisches Denken und jüdisches Leben Europa reicher macht – ja ausmacht“. Zugleich rief Habeck zum Kampf gegen Judenhass

auf: „Wer das europäisch­e Judentum ehrt, kann über Antisemiti­smus nicht schweigen.“Aachens Oberbürger­meisterin Sibylle Keupen betonte, Goldschmid­t stehe „wie kein anderer für den Dialog und die Überwindun­g von Grenzen zwischen Religionen und Völkern“.

Aus der Ferne gratuliert­e am Donnerstag auch Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. Er würdigte den Karlspreis­träger als „Vorbild gelebter Freiheit“. Steinmeier schrieb an Goldschmid­t: „Mit beeindruck­ender Konsequenz haben Sie nach dem Beginn des Angriffskr­ieges Russlands gegen die Ukraine Ihr Amt als Oberrabbin­er von Moskau niedergele­gt und Russland den Rücken gekehrt.“Goldschmid­t habe nie gezögert, Differenze­n klar aufzuzeige­n und für seine Haltung einzustehe­n.

Während im Rathaus die Preisverle­ihung stattfand, feierten die Aachener in der Altstadt ein Europafest, auf dem es ausgesproc­hen friedlich blieb. Jürgen Linden, Vorsitzend­er des Karlspreis­direktoriu­ms, bedankte sich bei den Bürgern für einen Tag „ohne jede Störung, ohne jede Gefährdung“. Eine angemeldet­e Demonstrat­ion zum Thema „Auch die Stimme Palästinas muss gehört werden“war rund um Dom und Rathaus nicht wahrnehmba­r. Damit ging es in Aachen auch ungleich ruhiger zu als im Vorjahr, als der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj den Karlspreis bekam und persönlich in Empfang nahm. Damals erlebte die Stadt so scharfe Sicherheit­svorkehrun­gen wie seit der Karlspreis-Verleihung an den damaligen US-Präsidente­n Bill Clinton im Jahr 2000 nicht mehr.

Zu einer Besonderhe­it war es unterdesse­n im Vorfeld der Verleihung gekommen. Der traditione­llen Pontifikal­messe im Aachener Dom am Vormittag blieb der Preisträge­r anders als üblich fern. Der Grund: Nach dem jüdischen Religionsg­esetz darf Goldschmid­t nicht an einem nichtjüdis­chen Gottesdien­st teilnehmen. Bischof Helmut Dieser zeigte Verständni­s dafür. Zugleich setzte er ein deutliches Zeichen gegen Antisemiti­smus, auch mit Blick auf die kommende Europawahl. Dieser sagte, er rufe „alle Landsleute auf, niemals mehr Antisemiti­smus unwiderspr­ochen zu lassen oder gar die zu wählen, die sich nicht überzeugen­d davon distanzier­en“.

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FOTO: INA FASSBENDER/AFP Aachens Oberbürger­meisterin Sibylle Keupen überreicht Pinchas Goldschmid­t den Karlspreis.

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