Ein Karlspreis gegen Judenhass
AACHEN Im Frühjahr 2022 fällte Pinchas Goldschmidt die schwerste Entscheidung seines Lebens. Der heute 60-Jährige war damals Oberrabbiner in Moskau. Doch mit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine geriet er unter Druck, weil er den Angriff nicht unterstützte. Schweren Herzens entschied er sich dazu, seine Gemeinde und Russland zu verlassen. So erzählt es Goldschmidt heute. Er sagt, dass Russland Krieg gegen das eigene Volk, gegen Europa, gegen Freiheit und Demokratie führe.
In Anerkennung „seines herausragenden Wirkens für den Frieden, die Selbstbestimmung der Völker und die europäischen Werte“wurde Goldschmidt an Christi Himmelfahrt nun mit dem Aachener Karlspreis geehrt. Mit ihm erhielten die Auszeichnung auch alle jüdischen Gemeinschaften in Europa. Das Karlspreisdirektorium erklärte, man wolle mit der Verleihung das „Signal setzen, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Europa gehört“.
In seiner Rede vor Hunderten geladenen Gästen im Aachener Rathaus beklagte Goldschmidt, dass gerade das aber nicht der Fall sei. „Jüdisches Leben ist eben nicht selbstverständlich, und in Europa ist viel Platz für Antisemitismus“, sagte er. Juden müssten um ihre Sicherheit bangen und könnten nicht in Freiheit leben. Zwar täten die deutsche und andere europäische Regierungen viel, um Antisemitismus zu bekämpfen. Doch das reiche nicht.
Der Rabbiner warb um Solidarität mit Israel und den jüdischen Gemeinden weltweit, übte aber auch Kritik an der heutigen israelischen Regierung mit „rechtsradikalen Regierungsmitgliedern“. Die Hamas im Gazastreifen forderte er auf, die israelischen Geiseln freizulassen.
Eine große Gefahr für Juden gehe zudem vor der iranischen Regierung in Teheran aus, sagte der Preisträger. Die Auszeichnung verpflichte ihn, seine Arbeit „noch stärker fortzusetzen“: Goldschmidt ist auch Präsident der Konferenz der europäischen Rabbiner, in der mehr als 700 Rabbiner vertreten sind.
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), der die Festrede hielt, würdigte den Rabbiner unter anderem als Mitgründer des europäischen Muslim-Jewish Leadership Council. In ihm sitzen jüdische und muslimische Würdenträger, die sich für religiösen Frieden und eine Vertiefung des Dialogs zwischen Juden und Muslimen einsetzen. Habeck beklagte, Antisemitismus sei „tief ins zivilisierte Europa eingeschrieben“. Die Entscheidung des Karlspreisdirektoriums würdigte er als „Zeichen dafür, dass jüdisches Denken und jüdisches Leben Europa reicher macht – ja ausmacht“. Zugleich rief Habeck zum Kampf gegen Judenhass
auf: „Wer das europäische Judentum ehrt, kann über Antisemitismus nicht schweigen.“Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen betonte, Goldschmidt stehe „wie kein anderer für den Dialog und die Überwindung von Grenzen zwischen Religionen und Völkern“.
Aus der Ferne gratulierte am Donnerstag auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er würdigte den Karlspreisträger als „Vorbild gelebter Freiheit“. Steinmeier schrieb an Goldschmidt: „Mit beeindruckender Konsequenz haben Sie nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine Ihr Amt als Oberrabbiner von Moskau niedergelegt und Russland den Rücken gekehrt.“Goldschmidt habe nie gezögert, Differenzen klar aufzuzeigen und für seine Haltung einzustehen.
Während im Rathaus die Preisverleihung stattfand, feierten die Aachener in der Altstadt ein Europafest, auf dem es ausgesprochen friedlich blieb. Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums, bedankte sich bei den Bürgern für einen Tag „ohne jede Störung, ohne jede Gefährdung“. Eine angemeldete Demonstration zum Thema „Auch die Stimme Palästinas muss gehört werden“war rund um Dom und Rathaus nicht wahrnehmbar. Damit ging es in Aachen auch ungleich ruhiger zu als im Vorjahr, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Karlspreis bekam und persönlich in Empfang nahm. Damals erlebte die Stadt so scharfe Sicherheitsvorkehrungen wie seit der Karlspreis-Verleihung an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton im Jahr 2000 nicht mehr.
Zu einer Besonderheit war es unterdessen im Vorfeld der Verleihung gekommen. Der traditionellen Pontifikalmesse im Aachener Dom am Vormittag blieb der Preisträger anders als üblich fern. Der Grund: Nach dem jüdischen Religionsgesetz darf Goldschmidt nicht an einem nichtjüdischen Gottesdienst teilnehmen. Bischof Helmut Dieser zeigte Verständnis dafür. Zugleich setzte er ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus, auch mit Blick auf die kommende Europawahl. Dieser sagte, er rufe „alle Landsleute auf, niemals mehr Antisemitismus unwidersprochen zu lassen oder gar die zu wählen, die sich nicht überzeugend davon distanzieren“.