Der erweiterte Beuys-Begriff
Welche Chancen bieten die Werke des Künstlers, unsere Zeit zu verstehen? Darauf antwortet jetzt ein „Handbuch“mit Artikeln von überwiegend jungen Autoren.
DÜSSELDORF Das hat uns im BeuysJahr mit seinen überbordend zahlreichen Ausstellungen und Ereignissen noch gefehlt: ein Buch mit dem spröden Titel „Joseph-Beuys-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung“, herausgegeben von Timo Skrandies, Kunstgeschichtsprofessor an der Düsseldorfer Heine-Uni, und der Wuppertaler Beuys-Kennerin Bettina Paust. Das Buch fehlte bislang tatsächlich, denn erstmals blickt es auf Beuys’ Leben und Werk unter dem Aspekt, was wir daraus für unsere Gegenwart lernen können.
Deshalb finden sich unter den rund 80 Autorinnen und Autoren auch kaum solche, die den Künstler noch persönlich kannten und schon zu dessen Lebzeiten zu seinen Exegeten zählten, sondern vor allem Jüngere, die Beuys aus dem Bewusstsein der Themen von heute deuten.
Das Handbuch, innerhalb von sechs übergreifenden Aspekten jeweils alphabetisch geordnet, gibt in der Abteilung „Werketablierung“zum Beispiel Auskunft darüber, wie Beuys’ Gedankenkosmos in Filmen über ihn Verbreitung fand: von der Dokumentation einzelner Kunstaktionen, mit deren filmischer Verarbeitung Beuys nicht immer glücklich war, bis zu Andres Veiels mehrfach ausgezeichnetem Film von 2017, über den Handbuch-Autor Matthias Weiß treffende Urteile fällt: „nicht ganz frei von hagiografischen Zügen“, aber auch mit dem anerkennenden Hinweis, dass Veiel den Fokus auf die politische Arbeit von Beuys legt, auf Fragen, „die bis heute relevant – das heißt, vonseiten der Politik noch immer nicht hinreichend beantwortet sind“.
Wer sich für „Beuys als Lehrer“interessiert, wird vor allem den Abschnitt „Die Korrekturgespräche“verschlingen – die Schilderung, wie Beuys die von ihm durchgesehenen Arbeiten seiner Studierenden in mehrere Stapel einteilte, ohne sie zu kommentieren: von „gut“über „verwertbar“bis „nicht weiter verwendbar“. Manche betrachteten dieses Verfahren als Vernichtungskampagne, andere wie Jörg Immendorff haben, was Beuys ausjuriert hatte, sofort zerstört und nur das, was Beuys für gut befunden hatte, aufgehoben und „mit Argusaugen bewacht“. Später ging Beuys weniger rigoros vor.
Doch auch kurz vor seinem Tod zeigte sich der, wie er selbst sich verstand, Humanist und Anthroposoph noch einmal von seiner rigorosen Seite: als nämlich eine Athener Galerie ein Konvolut angeblicher Beuys-Werke zum Kauf anbot. „Weg mit dieser schändlichen Ausstellung“, so wütete der Todkranke.
Erweiterter Kunstbegriff, Soziale Plastik, aber auch Gesamtkunstwerk, Fluxus und Humor sind Begriffe, zu denen das Buch Richtungweisendes zu sagen hat. Was es von bisherigen Nachschlagewerken unterscheidet, zeigt sich besonders im Kapitel „Kontexte“. Denn so wenig wie die Autorinnen und Autoren
der Beiträge allein Kunsthistoriker sind, so gering ist die Rolle von Künstlerkollegen im Verzeichnis derer, mit denen Beuys eine geistige Beziehung verband. Adam Smith findet sich da in Gesellschaft von Albert Einstein, Friedrich Nietzsche, Heinrich Böll, Heinz Sielmann, James Joyce, Johann Wolfgang von Goethe und Rudi Dutschke. Wie sehr Beuys von Goethe beeinflusst war, wie sehr er dessen Seelenforschung einem rein naturwissenschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Mensch vorzog – und dass für ihn Materie immer verdichteten Geist bedeutete –, alles erschließt sich aus dem Kapitel über Goethe und den Deutschen Idealismus.
Als die Herausgeber Timo Skrandies und Bettina Paust jetzt im Haus der Universität ihr Handbuch vorstellten, äußerten sie die Hoffnung, dass es zugleich Auslöser für neue Forschung sein möge. Denn die Texte über Beuys, die zu seinen Lebzeiten entstanden, bauten viel zu sehr auf Auskünfte, die Beuys selbst über sein Leben preisgegeben hatte und die sich später oft mehr als Dichtung denn als Wahrheit erwiesen. Man denke nur an Heiner Stachelhaus’ Bestseller aus den 80er-Jahren, in dem er gutgläubig das Märchen vom abgeschossenen, schwer verletzten Stuka-Flieger Beuys verbreitete, den Krimtataren bei sich aufgenommen und gesundgepflegt hätten. Beuys erklärte aus dieser Geschichte seine Vorliebe für Fett und Filz, für Schamanentum und Menschen, die in Einklang mit der Natur leben – eine jener Vorstellungen, die uns den Romantiker Beuys heute als Zeitgenossen erscheinen lassen.
Unser Schnelltest des Handbuchs ergab: Der J.-B.-Metzler-Verlag hat nicht zu viel versprochen. Ein Nachschlagewerk für Kenner, ein Lesebuch für Einsteiger und ein Buch, in dem es um mehr geht als nur um Kunst.
Beuys teilte alle Arbeiten seiner Studierenden ein: „gut“, „verwertbar“und „nicht
weiter verwendbar“