Die Unerschrockene
Schahina Gambir kam als kleines Kind mit ihren Eltern aus Afghanistan nach Deutschland. Jetzt kandidiert sie für die Grünen bei der Bundestagswahl. Die Gefahr, rassistisch beschimpft zu werden, nimmt sie in Kauf – für die Demokratie.
BIELEFELD Das Datum nennt sie genau: 19. Februar 2020. Damals erschoss ein Mann in Hanau neun Bürger der Stadt, weil er sie für Menschen mit Migrationshintergrund hielt. „Mich hat dieser rassistische Angriff zutiefst erschüttert“, sagt Schahina Gambir, wie ein Erdbeben sei das für sie gewesen. Am Tag danach verfolgte sie intensiv, wer sich auf der politischen Bühne wie äußerte – und hörte viele Floskeln, wenig wahres Verständnis dafür, was dieses Attentat für jene bedeutet, die tatsächlich aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. An diesem Tag nach dem Anschlag von Hanau, hat Schahina Gambir beschlossen, dass sie für den Bundestag kandidieren will. Vorgeschlagen hatten ihr das Freunde aus ihrer Partei, den Grünen, schon vorher. Sie hatte abgewunken, weil sie dachte, sie sei noch nicht so weit. Doch Hanau veränderte alles. „Ich dachte, da muss jetzt etwas passieren. Ich kann nicht darauf warten, dass jemand kommt und dem, was ich empfinde, eine Stimme gibt. Ich muss selbst was tun.“Kurze Zeit wartete sie noch, ließ den Gedanken „in sich wachsen“, wie sie sagt. Dann informierte sie die Partei.
Ein gutes Jahr später steht Schahina Gambir, 29 Jahre alt, auf einem aussichtsreichen Listenplatz für die Bundestagswahl im Herbst. Bei der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen in NRW wurde sie gerade auf diesen Platz gewählt. „Das ist für mich ein riesiges Zeichen von Vertrauen, und ich bin voller Elan“, sagt Gambir. „Ich habe so oft Wahlkampf für andere gemacht, jetzt trete ich selbst an und hoffe, dass ich im Bundestag daran mitarbeiten kann, dass unsere Gesellschaft vielfältiger und offener wird.“
Dass es Gegner dieser offenen Gesellschaft gibt und Menschen, die Kandidaturen wie ihrer feindselig begegnen, ist Gambir bewusst. Als sie ihrer Familie erzählte, dass sie kandidieren wolle, war deren erste Frage, ob das nicht gefährlich sei. Ob sie dann nicht auch Morddrohungen erhalten werde. „Ich kann das nicht negieren“, sagt Gambir, „ich weiß nicht, was geschehen wird. Aber wenn Menschen wie ich sich nicht mehr trauen, in die Politik zu gehen, ist unsere Demokratie in Gefahr.“Sie sagt solche Dinge, ohne dass sie abgedroschen klängen. Demokratie, das ist für sie etwas Lebendiges, Kostbares, das es zu verteidigen gilt.
Gerade erst hat ihr Parteikollege Tareq Alaows, der vor wenigen Jahren aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist, seine Bewerbung um eine Bundestagskandidatur zurückgezogen und das damit begründet, dass er und seine Familie rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt waren. Gambir kann die Entscheidung gut nachvollziehen, aber sie bedauert den Rückzug. „Er hätte eine wichtige Perspektive eingebracht. Eine, die im Bundestag bisher gar nicht vorkommt und auch in der Öffentlichkeit allgemein zu kurz kommt“, sagt Gambir. „Es wird ja meist nur über Geflüchtete geredet, sie sprechen zu selten selbst.“Auch Gambirs Familie ist nach Deutschland geflüchtet – aus Afghanistan. Schahina war damals knapp drei Jahre alt, aber sie kann sich gut an die Jahre der Unsicherheit erinnern, in denen die Familie mit Duldungsstatus lebte, das Asylrecht verschärft wurde, sie alle nie sicher waren, wie es weitergehen würde.
„Wir waren abhängig davon, was die Politik entscheidet“, sagt Gambir. Darum kann sie kaum verstehen, wenn Menschen Politik für unwichtig halten. „Wenn mir Leute am Straßenstand sagen, sie gingen nicht wählen, blutet mein Herz“, sagt Gambir. Sie versucht dann, mit den Menschen über ihren Frust zu sprechen. Was müsste sich ändern, damit sie wieder Vertrauen fassen würden, fragt sie etwa.
Die Migrations- und Flüchtlingspolitik war es auch, die Gambir zu den Grünen brachte, neben den Themen Klimawandel und Feminismus. „Die Grünen waren für mich die einzige Partei, die eine menschenfreundliche Migrationspolitik verfolgt hat“, sagt Gambir. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau entschied sie sich für ein Studium der Politik und Wirtschaftswissenschaft und ging nach Bielefeld. Damals absolvierte sie ein Praktikum bei den örtlichen Grünen, ein weiteres beim Europäischen Parlament. Danach begann ihre eigene Parteiarbeit: Sie war Mitgründerin der Jungen Grünen in Bielefeld, wurde Vorsitzende und Sprecherin des grünen Kreisverbandes in Bielefeld mit 700 Mitgliedern. „Ich habe bisher viel Zuspruch erfahren“, sagt Gambir, „auf allen Ebenen gibt es Menschen, die mir jetzt auch sagen, dass sie es toll finden, dass ich kandidiere.“
Zwei Ziele hat sie schon im Blick, sollte sie es in den Bundestag schaffen: Sie will sich für ein Demokratieförderungsgesetz einsetzen und für eine wissenschaftliche Studie zur Arbeitsweise der Polizei. „Es gab
Fehlverhalten, das eine Studie nötig erscheinen lässt, auch um nicht alle Polizisten dem Verdacht auszusetzen, sie seien womöglich verfassungsfeindlich eingestellt“, sagt Gambir.
Sehr lange sei in Deutschland immer nur eine bestimmte Gruppe von Menschen zu Wort gekommen – in der Politik wie in der Kultur und den Medien. Gambir wird sehr bestimmt, als sie darüber spricht.
Auch beim Thema Rassismus klaffe die Wahrnehmung der Probleme weit auseinander. „Manche Menschen finden ja, es reicht mit der Debatte, dabei sind wir gerade erst dabei festzustellen: Es gibt Rassismus, und da und da kommt er im Alltag vor“, sagt Gambir. Darum möchte sie sichtbarer machen, wie vielfältig das Land längst ist. Und dafür sorgen, dass diese Vielfalt auch im politischen Raum besser repräsentiert wird. Dass sie am Beginn eines Weges steht, auf dem ihr neben sachlicher Kritik auch Hass und Häme entgegenschlagen werden, darauf versucht sie sich realistisch einzustellen.
„Wenn ich rassistisch beschimpft werde, sage ich mir immer, dass die Menschen mich ja gar nicht kennen. Das nehm’ ich nicht persönlich“, sagt Gambir. Sie hat zu viel vor, um sich aufhalten zu lassen.