Wir Teilzeitstraßenverkehrsordnungsnutzer
Abschluss der Radserie: Radler haben es schwer. Fußgänger auch. Autofahrer ebenfalls. Alle machen sich gegenseitig das Leben nicht leichter.
DÜSSELDORF „Palmström, etwas schon an Jahren, wird an einer Straßenbeuge und von einem Kraftfahrzeuge überfahren.“So beginnt das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“von Christian Morgenstern, das vor über hundert Jahren ein brandaktuelles Phänomen beschreibt: den Kampf der Verkehrsteilnehmer. Am Ende kommt Palmström, Morgensterns Held in zahlreichen seiner skurrilen Gedichte zu dem Ergebnis: „Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“Nun kennt nicht jeder Palmström, aber jeder hat wie er schon einmal nach einem albtraumhaften Erlebnis auf der Straße den Satz ausgestoßen: Das darf nicht wahr sein! Nicht aufgepasst, stur, rücksichtslos, gemeingefährlich – der moderne Mobilitätsalltag strotzt nur so von Teilzeitnutzern der Straßenverkehrsordnung. Autofahrer gegen Radfahrer und Fußgänger, Radfahrer gegen Fußgänger und Autofahrer, Fußgänger gegen Radfahrer und Autofahrer – die Fronten sind klar, und schuld sind immer die Anderen.
Interessant wird es, sobald sich die Fortbewegungsart ändert. Dann kann sich etwa der Autofahrer, der eben noch als Fußgänger unterwegs war, kaum noch in die Lage derer versetzen, die ihm gerade per pedes oder in die Pedale tretend in die Quere kommen, und säße er auf dem Rad, würde er ebenso munter auf die jeweils anderen schimpfen. So rasant gelingt selten ein Wechsel der Perspektive – freilich ohne großen Lerneffekt.
Anders als unter den Bewohnern des Dschungels gilt in den Schluchten der Städte prinzipiell ein Recht des Schwächeren. Unter denen, die das im Land der Dichter und Lenker verstanden haben, ist freilich die Ansicht verbreitet, man könne sich blind darauf verlassen oder daraus ließe sich gar eine moralische Überlegenheit gegenüber den Betreibern PS-starker Verbrennungsmotoren ableiten. Beides kann gehörig ins Auge gehen. Trotzdem ignorieren Fußgänger beharrlich rote Ampeln, sind Biker entgegen der Einbahnstraße unterwegs und Menschen auf Rollerblades mitten auf der Fahrbahn anzutreffen.
Fahrräder sind frei von Kennzeichen, Autofahrer von Glas und Blech umgeben, Fußgänger einer wie der andere. Es ist die Anonymität, hinter der sich jeder in der Kampfzone des Verkehrs glaubt verstecken zu können. Und so wird geschimpft, gepöbelt, genötigt.
Die Feindbilder sind wie in Stein gemeißelt: Autofahrer nutzen ihre überlegene Position aus, Radler werden schnell frech und selbst Fußgänger haben ein Rad ab: kämpfen um jeden Meter, wenn es darum geht, die Straße vor dem Zebrastreifen zu überqueren.
Das Problem ist bei allen dasselbe: Der Ärger steigt in dem Maße, wie die Differenz zwischen eigenem Wunschtempo und tatsächlich erreichbarer Geschwindigkeit zunimmt. Das belegen Studien. Aber der kurze Blick in den Rückspiegel ist nicht das, was mit Rücksicht gemeint ist. Das sagt der gesunde Menschenverstand. Lassen wir ihn nicht im toten Winkel.