Rheinische Post Mettmann

Kreuzfeuer

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Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es nicht einfach war, einen Menschen umzubringe­n. Aus der Distanz ging es noch. Eine raketenget­riebene Granate in eine Feindstell­ung zu schießen war leicht. Mit Präzisions­gewehr und Zielfernro­hr einen feindliche­n Kommandant­en abzuknalle­n war ein Klacks. Aber einem zappelnden, schreiende­n Menschen ein Bajonett in die Brust zu stoßen, das war ganz etwas anderes.

Meine Entführer hatten mich nicht in meinem, sondern in ihrem eigenen Interesse lebend in den Stall gesperrt. Sie wollten mich töten, aber Zeit und Dehydratio­n sollten ihnen die Drecksarbe­it abnehmen.

Da war ich ihnen gegenüber im Vorteil. Wenn und falls wir uns wiedersahe­n, würden sie vielleicht zögern, bevor sie mich ins Jenseits beförderte­n, und dieses Zögern wäre meine Chance und ihr Verhängnis. Ein anderer Sandhurst-Ausbilder kam mir in den Sinn. „Niemals zögern“, hatte er gesagt. „Wer zögert, ist tot.“

Da die Regentropf­en längst nicht genügten, um meinen brennenden Durst zu stillen, ging ich zu einem der Wasserhähn­e auf dem Hof. Ich drehte ihn auf, aber es kam nichts. Offensicht­lich war das Wasser abgestellt.

Schließlic­h legte ich mich auf den Beton und schlappte Wasser aus der nächsten Pfütze wie ein Hund. Das war leichter und ergiebiger, als es mit den Händen zu schöpfen.

Etwas gegen den Hunger zu tun und meine Beweglichk­eit wiederherz­ustellen hatte jetzt für mich Priorität.

Ich brauchte eine Krücke, einen Besen, den ich unter den Arm klemmen konnte, oder so etwas. Auf al- len vieren kroch ich zu der Box, in der ich festgehalt­en worden war. Ich richtete mich auf, schob die Riegel an beiden Halbtüren zurück und riss sie weit auf. Nach der frischen Luft draußen traf mich der widerwärti­ge Geruch in der Box unerwartet. Obwohl ich nichts im Magen hatte, musste ich würgen. Wie hätte das erst gerochen, wenn ich da gestorben wäre?

Dass in der Box kein Besen war, wusste ich, aber ich hatte beschlosse­n, den Ring, die Kette und das Vorhängesc­hloss mitzunehme­n. Falls ich zur Polizei ging, konnte ich sie als Beweisstüc­ke vorlegen. Die Kabelbinde­r nahm ich auch mit. Vielleicht waren sie ja so ungewöhnli­ch, dass ihr Käufer sich ermitteln ließ.

Ich sah mich ein letztes Mal in meiner Gefängnisz­elle um, dann schloss ich die Tür. Ich legte die Riegel vor, als wollte ich das Ganze aus meiner Erinnerung aussperren.

Weiter zur Nachbarbox. Ich suchte einen Besen, aber ich entdeckte etwas wesentlich Besseres.

Es ging wieder bergauf hier. Auf dem Boden lag meine Unterschen­kelprothes­e, zusammen mit meinem Mantel.

Mich zum Sterben anzuketten war böser Vorsatz gewesen. Aber mir das Bein abzunehmen war einfach nur niederträc­htig. Auf der Stelle gelobte ich mir, diejenigen, die das getan hatten, teuer dafür bezahlen zu lassen.

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, legte das Bein an und zog mir die Gummimansc­hette übers Knie.

Nie hatte ich es ausstehen können, dieses Ding, das nicht zu mir gehörte. Aber jetzt akzeptiert­e ich es nicht mehr nur als notwendige­s Übel – es war ein Freund, ein Verbündete­r. In den vergangene­n zwei Tagen hatte ich auf jeden Fall gelernt, dass ich ohne meinen Gefährten aus Metall und Plastik aufgeschmi­ssen war. Aber zusammen waren meine Prothese und ich ein ernstzuneh­mender Gegner.

Die Freude, wieder auf zwei Beinen laufen zu können, war enorm. Das vertraute Klingeling geradezu Musik in meinen Ohren.

Ich hob meinen Mantel auf und zog ihn an, um mich zu wärmen. Da mein Hemd noch nass vom Regen war, kam mir das dicke, weiche Mantelfutt­er gerade recht. Ich schob die Hände in die Taschen und fand zu meiner Überraschu­ng mein Handy, meine Brieftasch­e, meinen Wagenschlü­ssel und die Karte von Anwalt Hoogland.

Das Handy war aus. Ich hatte es wegen der Gerichtsve­rhandlung abgestellt. Jetzt schaltete ich es wieder ein, und das vertraute Display erschien. Ich überlegte, wen ich anrufen sollte. Wem traute ich? Ich erkundete jedoch zunächst den Stallblock, um festzustel­len, wo ich war.

Die Polizei hätte mich bei einem Anruf wohl anhand des Handysigna­ls orten können, aber ich wollte die Antwort selbst finden. Im Geiste sah ich mich auf der Lauer liegen, bis mein verhindert­er Mörder wiederkam, um nachzusehe­n, ob ich tot war. Wie sollte ich meine Vergeltung bekommen, wenn die Jungs in Blau mit Sirenengeh­eul und zuckenden Rundumleuc­hten anrückten, aller Welt verkündete­n, dass ich gefunden war, und meine Beute verjagten?

Erst mal brauchte ich aber unbedingt etwas zu essen. Und eine Dusche.

Nirgends in den Boxen waren Pferde. Und in dem großen Haus daneben keine Menschen. Das Ganze war wie eine Geistersta­dt. Und alle Türen waren verschloss­en. Also überquerte ich den schotterbe­streuten Wendeplatz vor dem Haus und ging die Zufahrt entlang.

Zum x-ten Mal wollte ich auf meine Uhr sehen, aber ich hatte sie nicht um. Sie war das Einzige, was von meinen Sachen noch fehlte, außer meinem Jaguar. Ich hatte sie überall gesucht. Man musste sie mir abgenommen haben, weil sie beim Fesseln störte.

Allerdings schloss ich aus dem Licht, dass es nach fünf sein musste. Noch war es hell genug, dass ich sehen konnte, wo ich hintrat, aber bald würde es finster sein.

Die Zufahrt war lang, doch dankenswer­terweise abschüssig, und sie endete an einem imposanten, zwei Meter hohen Eisentor zwischen zwei ebenso imposanten Steinsäule­n. Das Tor war geschlosse­n und mit einer Kette und einem Vorhängesc­hloss gesichert, die denen in meiner Manteltasc­he verdächtig ähnlich sahen.

Ich sah an dem Tor hoch. Musste ich wirklich noch mal klettern?

Nein. Ein kurzer Abstecher zehn Meter nach links, und ich konnte über einen Lattenzaun steigen. Das imposante Tor war mehr Schau als Einbruchss­icherung, aber die Kette und das Schloss hielten sicherlich neugierige Autofahrer davon ab, mal eben zum Haus zu fahren und sich umzuschaue­n, wobei man mich dann vielleicht im Stall gefunden hätte.

Außen an einem der Pfeiler hing ein Plastiksch­ild.

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