Rheinische Post Mettmann

Bürger zählen Urwaldaffe­n per Webcam

- VON RAINER KURLEMANN FOTO: DPA

Immer stärker nutzt die Forschung die Mitarbeit von Laien. Sie sammeln Daten von Hirschkäfe­rn, Luchsen und Igeln.

LEIPZIG Haben Sie heute schon nach Schimpanse­n Ausschau gehalten? Das klingt nach einem ungewöhnli­chen Hobby, ist aber einfach. Ein paar Dutzend selbstausl­ösende Webcams im afrikanisc­hen Dschungel zeichnen Tag für Tag Tausende Bilder auf – und weltweit suchen Freiwillig­e auf diesen Fotos nach Affen. Die Bilanz ist nicht besonders gut. „Wir haben 20.000 Videos vom neuen Standort Crimson Dew in Westafrika, etwa 750 dieser Aufnahmen werden Schimpanse­n zeigen“, schreibt Anja Landsmann in ihrem Blog „Chimp&See“. Auf den restlichen Bildern sind gar keine oder andere Tiere zu sehen, manchmal ist es auch zu dunkel oder die Tiere huschen durch den Hintergrun­d.

Trotzdem beteiligen sich viele Menschen an diesem Projekt des Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionä­re Anthropolo­gie als Affensuche­r am Computer. „Durch die Mithilfe begeistert­er und engagierte­r Bürger lässt sich das Verständni­s über die Lebensweis­e und Ökologie freilebend­er Schimpanse­n verbessern und verändern“, hofft Christoph Boesch, Direktor am MPI in Leipzig. Die Sichtungen der Hobbyforsc­her werden später von den Wissenscha­ftlern ausgewerte­t und mit der Liste von Individuen abgegliche­n, die bereits andere Helfer identifizi­ert haben.

Die unentgeltl­iche Bürgerbete­iligung hat Konjunktur. „Ohne die Hilfe von Freiwillig­en wäre eine vergleichb­are Datenfülle nicht zu erreichen“, so Christian Gerske von Hessen-Forst in Gießen. Gerske lässt Bürger die Nistkästen von Haselmäuse­n kontrollie­ren. Sie zählen Hirschkäfe­r, Libellen, Faltenwesp­en, wilde Luchse.

Im Mai startete der hessische Landesbetr­ieb für Forsteinri­chtung und Naturschut­z Hessen-Forst einen Aufruf, um eine Karte zur Verbreitun­g von Feuersalam­andern zu erstellen. „Binnen vier Monaten haben sich mehr als 200 Freiwillig­e beteiligt“, freut sich Gerske. Sie schickten der Behörde Fotos und Standorte von Feuersalam­andern. Demnächst sollen Hobby-Forscher ihre Daten über eine App direkt hoch- laden können. Hessen-Forst verfügt mittlerwei­le über 300 Freiwillig­e, die dauerhaft melden, wenn sie den seltenen Hirschkäfe­r finden. „Viele junge Menschen sind begeistert von den urtümliche­n Hirschkäfe­rn in ihrem unmittelba­ren Wohnumfeld“, sagt der Biologe.

In Bayern und Berlin werden Menschen gesucht, die Igel zählen. Das Friedrich-Löffler-Institut lässt für einen bundesweit­en Atlas Mücken sammeln, bestimmt die Art der Mücken und kontrollie­rt nebenbei, ob sich potentiell­e Infektions­träger wie die asiatische Tigermücke in Deutschlan­d ausbreiten. Andere Wissenscha­ftler interessie­ren sich für die Blütezeit von Apfelbäume­n, gefleckte Weinbergsc­hnecken, Pilze, Wildschwei­ne und Füchse in Großstädte­n oder für die Vögel im Garten oder zur Winterzeit. Mehr als 100.000 Laien beteiligte­n sich jedes Jahr an dieser Volkszählu­ng der Vögel, berichtet der Naturschut­zbund Nabu. „Die Aktion zeigt, dass zwar eine Reihe vom Arten kontinuier­lich abnimmt, aber anderersei­ts zieht es zahlreiche Arten aus dem Wald sowie aus Feld und Flur in Städte und Dörfer“, sagt Helge Mey.

Christian Gerske

Für die Naturschüt­zer sind die Hobbyforsc­her mehr als nur nützliche Datensamml­er. „Der größte Mehrwert für uns ist, dass die Bürger ein Problem mit eigenen Augen sehen und möglicherw­eise auch ihr Verhalten ändern“, erklärt Kathrin Schneider vom Unabhängig­en In- stitut für Umweltfrag­en in Berlin. Sie untersucht mit Bürgerbete­iligung die Ausbreitun­g von Pflanzen, die sich in Gebieten ansiedeln, wo sie nicht heimisch sein. Diese so genannten Neophyten wie Bärenklau oder Staudenknö­terich können sich zur regelrecht­en Plage für die angestammt­e Natur entwickeln. „Profession­elle Kartierung­en erfolgen derzeit in Abständen von sechs oder sogar 15 Jahren“, so Schneider, „in dieser Zeit können sich problemati­sche Neophyten weit ausbreiten und nicht mehr kontrollie­rbar werden.“

Das Max-Planck-Institut für Ornitholog­ie am Bodensee will den Hobby-Forschern konkrete Aufgaben stellen. Mit einem GPS-Gerät sollen sie Vögel suchen, die von den Forschern mit einem Miniaturse­nder versehen wurden. „Wir kennen zwar die Position dieser Vögel während ihrer Wanderung, aber wir wissen nicht, was sie dort machen“, so Danniel Piechowski, Koordinato­r der Aktion. Diese Infos seien aber für manche Fragestell­ung wichtig.

Demnächst können Naturkundl­er über eine App Fotos und weitere Informatio­nen senden. Auch die Hobbyforsc­her profitiere­n, weil sie wissen, wo sie auch seltenere Vögel wie Schwarzstö­rche beobachten können. „Wir arbeiten schon seit Jahrzehnte­n mit Hobbyforsc­hern zusammen, jetzt sind nur die technische Möglichkei­ten besser geworden“, erzählt Piechowski. Mehr als 10.000 Nutzer haben die App bereits auf die Smartphone geladen.

Doch nicht alle Projekte erfordern Forscherdr­ang in der freien Natur. Manche Angebote sind mehr an den Alltag gebunden. Migräne-Patienten sammeln für die Wissenscha­ft die äußeren Umstände, wenn sie einen Anfall bekommen – vielleicht findet sich ein Zusammenha­ng. Eltern dokumentie­ren die Fähigkeite­n ihrer Babys, weil die Forscher neue Daten zur durchschni­ttlichen Entwicklun­g von Kindern benötigen.

Wer lieber auf dem Sofa nach Schimpanse­n im Urwald Ausschau hält, kann mit viel Glück dennoch aufregende Beobachtun­gen machen. In den kurzen Video-Clips fanden die Bürgerfors­cher einige Sequenzen, in denen Schimpanse­n Steine als Werkzeuge benutzen. Ein Affensuche­r entdeckte sogar einen Schimpanse­n, dem ein großer Teil des rechten Arms fehlte, der sich aber dennoch behaupten konnte.

„Ohne die Hilfe von Freiwillig­en wäre eine vergleichb­are Datenfülle nicht zu erreichen“

Mitarbeite­r von Hessen-Forst in Gießen

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Wer Affen im Urwald am Computer beobachtet, bekommt auch ein neues Verständni­s für das Leben der Tiere.

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