Rheinische Post Mettmann

In Rio eskaliert die Gewalt

- VON TOBIAS KÄUFER

Ein Jahr vor den Olympische­n Spielen gerät die Lage in Brasiliens Metropole außer Kontrolle. Jugendgang­s terrorisie­ren die Wohlhabend­en – die nehmen nun das Gesetz selbst in die Hand.

RIO DE JANEIRO Alles geht blitzschne­ll, die Hände greifen nur einmal zu – und schon ist das neue Smartphone gepackt. Die Szene eines alltäglich­en Überfalls am Strand von Rio de Janeiro, die ein Fotograf der Tageszeitu­ng „O Globo“in allen Details festgehalt­en hat, bewegt die Menschen in der Olympiasta­dt. Denn der Moment des Überfalls, eine Zehntelsek­unde nur, birgt all jenen sozialen Sprengstof­f, der ein knappes Jahr vor den Olympische­n Spielen die Stimmung in dieser Stadt explodiere­n zu lassen droht. Es ist ein Kampf auf Rios Straßen und an seinen Stränden. Ein Kampf zwischen Reich und Arm, zwischen Weiß und Schwarz. Und er eskaliert jedes Wochenende ein bisschen mehr.

Rios Jugendgang­s, überwiegen­d aus dunkelhäut­igen Jungen aus den bettelarme­n und benachteil­igten Favelas bestehend, kommen aus dem Norden der Stadt. Meist, so behaupten zumindest ihre Opfer, nehmen sie den Bus. Dann suchen sie sich gezielt ihre Opfer aus, stürmen an die Strände, in die ShoppingCe­nter oder die Einkaufsst­raßen und reißen alles an sich, was sie in diesen wenigen Sekunden ihrer Beutezüge zu fassen bekommen. Mal sind es Halsketten, mal Geld- börsen, mal eben Handys. Weil die bewaffnete­n Kinder und Jugendlich­en gleich im Dutzend wie ein Flashmob auftreten, ist eine wirksame Gegenwehr kaum möglich und obendrein lebensgefä­hrlich.

Rios wohlhabend­e Bewohner sind schockiert und fühlen sich alleingela­ssen. Nun nehmen sie das Gesetz selbst in die Hand und haben eine Art Bürgerwehr gegründet. Sie nennen sich „Justiceiro­s“(„Gerechtigk­eitslieben­de“), die wiederum selbst Jagd auf die Gangs machen. Dabei kommt es zum Teil zu erschütter­nden Jagdszenen auf den Straßen, die vor allem einen Zweck haben: einzuschüc­htern.

Die selbsterna­nnten Sheriffs dulden nicht den Aufenthalt der Armen an „ihren Stränden“oder in ihren vornehmen Vierteln. Inzwischen ist die Stimmung so aufgeladen, dass die Polizei in den Bussen, die in den wohlhabend­en Süden fahren, Razzien durchführt.

Auf Druck der einflussre­ichen wohlhabend­en Bevölkerun­g der Sechs-Millionen-Metropole werden nun einige Buslinien vor der Endstation gestoppt oder umgeleitet. So sollen die Raubzüge der Jugendgang­s im Zentrum zumindest erschwert werden. Betroffen sind unter anderem drei Buslinien, die aus den sozialen Brennpunkt­en an die Traumsträn­de Leme und Ipanema

Antonio da Costa fahren. Unter der Maßnahme leiden allerdings die Menschen, die mit diesen Bussen zur Arbeit fahren müssen. Antonio da Costa, einer der prominente­sten Menschenre­chtler und Gründer der Nichtregie­rungsorgan­isation „Rio de Paz“(„Friedensfl­uss“), sagt: „Das Verhalten von Teilen der Mittelschi­cht kann zu einem Bruch mit den Bewohnern der Favelas führen. Mit unabsehbar­en Konsequenz­en.“

Unterdesse­n bekommt die Auseinande­rsetzung zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd auch eine ideologisc­he Note. Denn gewaltbere­ite Gruppen aus der linksradik­alen Szene haben sich inzwischen mit den Jugendgang­s solidarisi­ert und erklären nun ihrerseits der Bürgerwehr den Krieg. Vor allem an den Wochenende­n, wenn die Strände voll sind, wächst das Misstrauen. Der Soziologe Ignácio Cano von der Universitä­t des Bundesstaa­ts Rio de Janeiro befürchtet eine Eskalation: „Nicht nur die kriminelle­n Gangs könnten aufrüsten. Auch die, die noch nie eine Waffe in der Hand gehabt oder ein Verbrechen begangen haben, könnten den Eindruck gewinnen, es sei besser, sich zu bewaffnen.“

Die gesellscha­ftliche Konfrontat­ion ist das Ergebnis einer verfehlten Sozialpoli­tik von Stadt, Bundesstaa­t und nationaler Regierung, die alle die Schuld auf die jeweils andere Instanz schieben. Zwar hat die linksgeric­htete Arbeiterpa­rtei von Präsidenti­n Dilma Rousseff bereits vor Jahren erste Sozialprog­ramme aufgelegt, die die Lebenssitu­ation der sozial schwachen Bevölkerun­g verbessert haben. Doch eine wirkliche Perspektiv­e haben die Kinder aus den Elendsvier­teln auch unter Rousseff nicht bekommen. Es fehlt an einer nachhaltig­en Bildungspo­litik, an einer Sozialpoli­tik, die nicht nur fördert, sondern auch fordert.

Ob diese allerdings angesichts der schweren Wirtschaft­s- und Finanzkris­e, die das Land heimsucht, überhaupt noch finanziert werden kann, ist fraglich. Für das Klima auf Rios Straßen bedeutet das nichts Gutes, ein Jahr vor Olympia.

„Das Verhalten der Mittelschi­cht kann

zum Bruch mit den Favelas führen“

Menschenre­chtler

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