Herr Yamashiro
Ernst begriff, dass etwas ebenso Bedeutsames wie Heikles bevorstand, stellte keine Fragen, sondern lief in die Küche, um die Lampe zu holen. Anschließend hieß Nakata Seiji ihn beim Eingang des Ofens warten und verschwand seinerseits im Haus.
Als er wenig später zurückkam, hatte er den Gurt einer kastenartigen schwarzen Ledertasche, wie sie nach dem Krieg für Kameras oder Ferngläser gebräuchlich waren, über der Schulter. Zusätzlich hielt er die Tasche mit beiden Händen vor dem Bauch fest, als trüge er eine kostbare Teeschale. Er überquerte das kurze Stück zwischen Haus und Ofen geduckt und hastig, schob sich mit hochgezogenen Schultern an Ernst vorbei, bückte sich und verschwand im Inneren des Ofens.
Ernst solle folgen, flüsterte er. Und Licht machen. Ernst schaltete die Lampe ein. Auf der Grenze von Feuerplatz und Brennkammer begann Nakata Seiji mit dem Dreizack sehr vorsichtig eine zwanzig mal zwanzig Zentimeter große Fläche im Boden zu lockern. Dann drehte er die Hacke, stach vier saubere Kanten ab und hob eine kleine Grube aus.
In diesem Moment steckte Thomas Gerber den Kopf herein und fragte: „Was macht ihr so? Am Schornstein passiert gerade nicht viel. Wenn es interessant ist, könnten wir vielleicht hier drehen, dann hätten wir auch Bilder vom Innenraum des fertigen . . .“
„Dete ike!“, fauchte Nakata Seiji so heftig, dass Ernst zusammenzuckte und selbst Thomas Gerber ein Stück zurückwich.
„Ich glaube, es ist besser, du gehst“, sagte Ernst. „Ich meine, wenn es für den Ofen wichtig ist, könnte er auch noch ein paar Sätze dazu . . .“Er solle verschwinden, sofort! „Er möchte auf gar keinen Fall, dass du dich noch länger hier aufhältst.“
Ob er das klar und deutlich übersetzen könne, fuhr Nakata Seiji Ernst an.
„Da besteht leider auch keine Diskussionsmöglichkeit.“
„Musst du selber wissen. Ist dein Film.“
„Du merkst doch, dass . . . – Ich habe nicht die geringste Ahnung, was wir hier tun. Aber geh jetzt. Bitte.“
Nachdem Thomas Gerber sich zurückgezogen hatte, und Nakata Seiji sicher war, dass sich niemand mehr in der Nähe des Ofens aufhielt, setzte er schweigend die Grabung fort. Er bemühte sich, die kleine Kammer mit sauber konturierten Wänden und glattem Grund zu versehen, wies Ernst an, mit der Taschenlampe erst diese dann jene Ecke auszuleuchten, bis alles seinen Vorstellungen entsprach. Er sammelte sich einen Moment, ehe er die schwarze Tasche heranzog, öffnete die beiden Verschlüsse, entnahm beidhändig und sehr vorsichtig ein Gefäß, das in Stoff eingeschlagen war und stellte es sachte vor seinen Knien ab. Ernst hockte bewegungslos im Fersensitz, als wohnte er einer Teezeremonie bei. Nakata Seiji löste den Knoten, der die Enden des Tuchs oben zusammengefasst hatte. Zum Vorschein kam ein urnenförmiges Gefäß von der Größe eines Gurkenglases, dessen Öffnung von einem flachen schwarzen Lackdeckel verschlossen wurde. Nakata Seiji atmete tief durch und nahm den Deckel ab, hielt erneut inne, um dieses und jenes gegeneinander abzuwägen – entschied sich nun doch, etwas zu sagen: Es sei nichts in der Richtung, wie Ernst vielleicht denke.
Ernst hatte bislang gar nichts gedacht, sondern schon bei Nakata Seijis Bitte um eine Schippe beschlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, wie er es in seiner Zeit bei Herrn Furukawa gelernt hatte, nachdem seine anfänglichen Versuche, Erklärungen zu erwarten oder gar einzufordern, regelmäßig in Wutanfällen oder stundenlangem Schweigen des Meisters geendet hatten.
Weder habe es mit Shinto noch mit Buddhismus zu tun. Überhaupt nichts Religiöses.
Da Ernst nicht wusste, was er sagen sollte, und sicher war, dass jede Frage eine Störung bedeutet hätte, ließ er einen leisen, leicht anschwellenden Kehllaut vernehmen, der sowohl Staunen als auch Bewunderung zum Ausdruck brachte.
Es sei der ausdrückliche Wunsch Ito Hidetoshis gewesen, diesen Ofen in Deutschland zu bauen. Er beruhe auf einem Versprechen, das der Großmeister vor sehr langer Zeit einem deutschen Philosophen gegeben habe. All diese Verpflichtungen seien mit dem Tod Ito Hidetoshis auf ihn übergegangen.
Nakata Seiji hielt noch immer den Deckel der Urne zwischen Daumen und Zeigefinger, legte ihn jetzt oben auf die Ledertasche, dann hob er das Gefäß an, kippte es vorsichtig in seine Handfläche aus, bis ein Stück weißen Tonbruchs von der Größe eines Daumenknöchelchens in den Kegel der Taschenlampe rutschte, gefolgt von zwei weiteren, die er in die Öffnung zurückschob.
Dies sei gebrannter Ton von der Töpferscheibe Ito Hidetoshis, an dem er gearbeitet habe, unmittelbar bevor er gestorben sei. Ernst spürte, wie seine Ohren abwechselnd heiß und kalt wurden. Sein Kehlkopf war so trocken, dass er nicht einmal mehr einen der unbestimmt präzisen japanischen Laute herausbrachte. Ein Tropfen Schweiß lief an der Nasenspitze zusammen und fiel in den Sand. Mit einem Gesichtsausdruck zwischen bodenloser Erleichterung und Übellaunigkeit platzierte Nakata Seiji das Tonstück auf dem Boden der Grube. Seine Lippen bewegten sich lautlos, abgesehen von einem untergründigen Brummen, das vom Zwerchfell hinaufstieg, als spräche er Formeln oder Gebete, was nicht sein konnte, da er dergleichen kategorisch ausgeschlossen hatte. Vielleicht war es ihm aber auch nur darum gegangen, in Ernsts Augen weiterhin als kompromisslos moderner Mensch dazustehen. Wiederum hielt er einen Augenblick inne, nahm dann mit beiden Händen von dem SandErde-Gemisch, das er ausgehoben hatte, bedeckte sorgsam das Tonknöchelchen und füllte die Grube auf. Zum Schluss drückte er die Oberfläche glatt und raunte Ernst zu, er solle ihm einige von den Steinen anreichen, die sie gleich hier versetzen würden.
„Komm, wir machen ein Foto mit allen“, sagte Herta Mölders. „So eine Truppe kriegen wir nie wieder zusammen.“
Sie legte Herrn Yamashiro den Arm um die Schulter, hielt ihm mit der anderen Hand eine große Platte voller Schnitzelchen unter die Nase: „Es gibt auch Zitrone“, sagte sie. „Und Sojasauce – habe ich extra im Großmarkt besorgt.“