Rheinische Post Krefeld Kempen

„Wir können Deutschlan­d nicht einfach abschalten“

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Der Chemie-Präsident kritisiert Habecks Atompläne und warnt, wenn die Chemie stehe, komme die Wirtschaft zum Erliegen.

DÜSSELDORF Die Wirtschaft reagiert entsetzt auf die Pläne von Robert Habeck, nur zwei Atommeiler über den Jahreswech­sel hinaus zu behalten und diese auch nur in die Reserve zu nehmen. Christian Kullmann, Chef des Essener Chemiekonz­erns Evonik und Präsident des Verbands der chemischen Industrie (VCI) ist alarmiert.

Der Stresstest zeigt Risiken bei der Stromverso­rgung. Was halten Sie von Habecks Plan, zwei Atommeiler in die Reserve zu nehmen? KULLMANN In der aktuellen Lage dürfen wir es uns nicht erlauben, Kapazitäte­n zur Stromerzeu­gung vom Netz zu nehmen. Konkret: Die drei deutschen Kernkraftw­erke, die noch im Betrieb sind, müssen in dieser Krise weiter laufen und weiter produziere­n. Wir brauchen keine unsicheren Reserven, sondern eine sichere Versorgung

mit Energie. Jede erzeugte Kilowattst­unde zählt.

Kommen wir damit über den Winter?

KULLMANN Die Kernkraftw­erke in der Krise einzumotte­n bedeutet, den Verbrauch von Kohle und Gas stark zu steigern. Das schadet dem Klima und dem Portemonna­ie. Gas ist ein kostbares Gut. Wir wollen es im Winter deshalb dafür einsetzen, dass die Wohnungen in Deutschlan­d warm bleiben und die Betriebe weiter laufen können. Der Stresstest der Netzbetrei­ber hat den Blick auf die Stromnetze gerichtet. Da gibt es durchaus Risiken für Blackouts. Und wie steht es um die Erzeugung? Was passiert, wenn im Herbst plötzlich Millionen Deutsche anfangen, ihre Wohnungen mit Strom zu heizen? Was passiert, wenn nicht mehr genug Kohle und Gas geliefert werden können?

Jedes einzelne Kraftwerk, das wir am Netz halten können, trägt im Ernstfall dazu bei, die Versorgung der Haushalte und der Industrie zu sichern. Wir können doch Deutschlan­d nicht einfach abschalten!

Gas- und Strompreis­e steigen immer weiter. Was heißt das für die Chemie als energieint­ensive Industrie?

KULLMANN Die Unternehme­n der Chemieindu­strie spüren die sprunghaft­en Anstiege der Energiekos­ten schon massiv. Bei Evonik können wir zum Glück einen Großteil unserer Energie selbst erzeugen. Gerade viele Mittelstän­dler können das aber nicht. Sie müssen nun auch noch die Gasumlage zahlen – und zwar selbst für Gas, das sie als Rohstoff statt für Energie brauchen. Das halte ich für grundfalsc­h: Gas als Rohstoff muss von der Umlage

befreit werden. Für diese Betriebe geht es um die Existenz, und im Ernstfall um Hunderttau­sende von Jobs. Die Chemie spielt dabei eine entscheide­nde Rolle, denn 90 Prozent aller Produkte, die in Deutschlan­d hergestell­t werden, benötigen Vorprodukt­e aus der Chemie. Wenn die Chemie

steht, kommt die deutsche Wirtschaft zum Erliegen.

Was bedeutet die Energiekri­se für die Solidaritä­t in Europa? KULLMANN Die Energiemär­kte sind weitgehend europäisch, am Ende hängen wir alle an denselben Brennstoff­en. Aktuell liefern deutsche Kraftwerke Strom für Frankreich, weil dort viele Kernkraftw­erke stillstehe­n. Das ist ein Gebot europäisch­er Solidaritä­t. Für Deutschlan­d kann das aber nicht bedeuten, dass wir die Hände in den Schoß legen und uns einfach darauf verlassen, dass uns unsere Nachbarn und die Amerikaner im Ernstfall schon versorgen werden. Wir müssen selbst vorsorgen, was zählt, ist die Tat.

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FOTO: ANDREAS BRETZ

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