Rheinische Post Krefeld Kempen
Europa vor dem Wut-Winter
Die Koalition drückt aufs Tempo, will das nächste, wichtige Entlastungspaket so schnell wie möglich geschnürt haben. Sie spürt wie alle anderen Verantwortlichen in Europa, dass sich Bruchstellen bilden. Seit den 1950erJahren gab es keine vergleichbare Herausforderung mit Inflation, Strompreissprüngen, Kriegsangst, Sorge um Arbeit, Gesundheit, Wohnen und Leben gleichzeitig. Die Wohlstandsgenerationen der Nachkriegszeit sind darauf nur bedingt vorbereitet.
Wenn sich nun landauf landab die Menschen zu Demonstrationen zusammenfinden, so ist das zunächst einmal ein gutes Zeichen. Die Regierten senden damit an die Regierenden das Zeichen aus, dass sie Verwerfungen nicht hinnehmen und gegen gefühlte ungerechte Entwicklungen protestieren werden. Das ist gelebte Demokratie im Rechtsstaat. Allerdings muss die demokratische Gesellschaft genau darauf achten, wer diese Stimmung nun zu nutzen versucht, um seine am rechten und linken Rand der Gesellschaft bislang wenig ernst genommenen Vorstellungen vom Umsturz der Demokratie mithilfe der Proteste mehrheitsfähig zu machen.
Wer kein Problem damit hat, mit alten und neuen Nazis zu marschieren, der diskreditiert sein eigenes Anliegen. Bereits in der Radikalisierungsspirale der Corona-Proteste war dieses Muster angelegt. Bei der inszenierten Winter-Wut ist ein noch ungeahnt größeres Potenzial zu vermuten. Schon die nächsten Wahlen in wichtigen Ländern wie Italien oder Schweden können die Stimmung als Rechtsruck in die Parlamente bringen. Wie so oft sind gerade auf dem Gas- und Strommarkt auch europäische Verständigungen nötig. Aber sie müssen durch nationale Beschlüsse vorbereitet, begleitet und umgesetzt werden. Das erhöht auch den Druck auf die Ampel und macht entschiedenes Eingreifen zum Gebot der Stunde.