Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Revolutionär des Kinos
Mit „Außer Atem“revolutionierte der Regisseur Jean-Luc Godard die Filmgeschichte. Seine radikalen Methoden sind heute Allgemeingut. Zu seinen Bewunderern gehört Quentin Tarantino. Nun wird dessen Vorbild 90 Jahre alt.
Die ersten Minuten von „Außer Atem“, die sind es. Belmondo mit Bogart-Hut, Panzerarmband und Fluppe auf der Unterlippe. „Eigentlich bin ich ja ein Schwein“, sagt er. „Aber was hilft’s. Es muss sein.“Er ist ein Unsympath, ein Macker und breitbeiniger Strizzi. Er zelebriert sein eigenes Schweinsein, aber er ist immerhin so nett und nimmt den Zuschauer mit. Man ist so nah dabei, dass das Herz klopft. Belmondo fährt im kurzgeschlossenen Auto nach Paris, den Zuschauer auf dem Beifahrersitz, und er spricht er mit sich selbst und auch direkt in die Kamera. Er findet eine Wumme im Handschuhfach, und wie jeder Theatergänger weiß, wird die Pistole, die im ersten Akt auftaucht, spätestens im dritten abgefeuert. Bei Belmondo geht es schneller. Polizist, zielen, abdrücken. Nun ist er auf der Flucht.
Jean-Luc Godard drehte den Film 1959, da war er noch keine 30 Jahre alt, und jetzt wird der Regisseur 90. Mit „Außer Atem“revolutionierte er das Kino und fand eine neue Sprache für das, was er sagen wollte. Nichts erklären. Nur zeigen, dass und warum etwas ist. Nicht poetisieren, sondern die Wirklichkeit ins Kunstwerk holen. Er ging ohne Plan in die Dreharbeiten, hatte erst morgens im Kopf, was er mittags inszenierte, und die schnellen Schnitte und die wackelige Handkamera, die heute auf der Kinoleinwand schon Allgemeingut sind, stellten ungekanntes Tempo und Unmittelbarkeit her. So dicht war der Zuschauer dran, dass er den Schmutz unter Belmondos Fingernägeln sah.
Seit 60 Jahren dreht Jean-Luc Godard Film um Film. Er machte alle Verwandlungen des Kinos mit, er drehte mit dem Smartphone und in 3D. Er zerstörte die Tradition, indem er Schnitte bewusst sichtbar machte, auf eine einheitliche Erzählperspektive verzichtete und sich gegen klare Handlungsabläufe sträubte. Er dekonstruierte aber nicht aus Verachtung, sondern aus Liebe: Er wollte die Macht der vorherrschenden Bilder brechen und die alten Gewissheiten infrage stellen, um neue Bilder zu schaffen, der Zeit gemäße und freie Bilder. Er ist der Ruinenbaumeister des klassischen Kinos, der Rebell der Überlieferung, der Punk des Kommenden.
So gelangen einige der großen Momente europäischer Kino-Geschichte. Jean Seberg als Zeitungsverkäuferin auf den ChampsElysées. Bardot und Piccoli in „Die Verachtung“. Die endlos lang erscheinende Kamerafahrt vorbei an einer Autokolonne in „Weekend“, bei der nicht weniger passiert als der apokalyptische Zerfall der Zivilisation. Eddie Constantine, der den Zuschauer mit diesen Worten begrüßt: „Um 24.17 Uhr ozeanischer Zeit erreichte ich die Außenbezirke von Alphaville.“Und dann diese Gänsehaut-Szene in „Eins plus eins“, wo er die Rolling Stones bei den Aufnahmen von„Sympathy For the Devil“filmt: Der Kopf von Brian Jones zieht so unendlich langsam wie ein Raumschiff durchs Bild. Man sieht diese Szene nicht, man hört sie: Schschsch. Kurz danach war Jones tot. Und auch diese Stille hört mit, wer dem Film wiederbegegnet. Wie gerne hätte man „Bonnie und Clyde“in Godards Regie gesehen. Er hatte die Anfrage, er wollte auch, aber das Projekt zerschlug sich irgendwie, und schließlich übernahm Arthur Penn.
Godard ist ein Science-Fiction-Regisseur: Jeder seiner Filme birgt die Zukunft. Er lebt schon vier Jahrzehnte mit seiner Frau Anne-Marie Miéville zurückgezogen in Rolle am Genfer See, und von dort schickt er seine Produktionen in die Welt. Zuletzt vor allem Montagen, in denen die Tonspur gegen mythenschwere Bilder ankämpft, sich beide schließlich aber doch zu etwas Rhythmischem verbinden. Schon von Beginn an werden seine Arbeiten mit Jazzmusik verglichen, die Jump Cuts als Synkopen. Viel eher sind sie aber Literatur, weshalb der Vorschlag, ihn für den Nobelpreis zu nominieren, so falsch nicht ist. Es gibt schließlich keinen Nobelpreis für Philosophie, der wäre natürlich passender. Godard, das sei „Hegel und Rock ’n Roll“, schrieb Susan Sontag.
Der Held von „Elf Uhr nachts“sagt irgendwann, ihm sei die Idee für einen Roman gekommen: nicht das Leben eines Mannes zu schreiben, sondern nur das Leben, das Leben selbst. „Was es so gibt zwischen Menschen, Raum, Klang, Farben. Es muss eine Möglichkeit geben, das zu leisten. Joyce hat es versucht, doch man muss in der Lage sein, es besser zu machen.“Godard wagte es. Mit Bildern anstelle von Worten.
Man weiß nie, was als Nächstes von ihm kommt. Er möchte alle Möglichkeiten des Kinos ausschöpfen. Dabei geht er mitunter zu weit. Verrennt sich im Methodischen. Aber immer ist er: inspirierend. Nicht zufällig benannte Quentin Tarantino seine Produktionsfirma nach einem Godard-Film: „Bande à part“.„Bestimmt erkennen Sie doch zumindest die Notwendigkeit an, in Ihren Filmen Anfang, Mitte und Ende zu haben“, sagte einst ein Interviewer. „Ganz gewiss“, entgegnete Godard. „Aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“Und so gilt noch immer, was Susan Sontag 1968 über seine Filme schrieb: „Sie bewahren ihre jugendliche Fähigkeit, Anstoß zu erregen, als hässlich zu erscheinen, als unverantwortlich, frivol, prätentiös, leer. Filmemacher und Publikum lernen immer noch von Godards Filmen, liegen immer noch mit ihnen im Streit.“
Neulich tauchte eine Aufnahme von Google Earth auf, darauf sind Godard und Miéville zu sehen, weil sie zufällig vom Einkaufen kamen, als das Google-Fahrzeug die Straße fotografierte. Der alt gewordene Punk der Bilder gleichsam als Beifang einer Bilderfisch-Maschine. Der Bild-Denker als Objekt der künstlichen Intelligenz. Ein mythischer, irrer Moment.
Und ein schöner. Der Mann, der in seinem Werk zu verschwinden drohte: Er ist noch da.